Geir Thorsteinsson ist im Stress. Er wartet auf einen Anruf der «New York Times»: «Seit wir uns für die Fussball-EM qualifiziert haben, gebe ich ein Interview nach dem anderen», sagt er – und nimmt sich dann doch Zeit für ein ausführliches Gespräch.
Der 51-Jährige ist Präsident des isländischen Fussballverbandes. Als er 1992 seinen ersten Job am Verbandssitz antrat, war Island im Weltfussball eine vernachlässigbare Grösse.
Einzelne Spieler schafften zwar gelegentlich den Sprung in die grossen internationalen Ligen, doch als Nationalmannschaft war Island von der Qualifikation für ein grosses Turnier ähnlich weit entfernt wie Reykjavík von der Copacabana. Der grosse Fussball fand in Island nur am TV statt – wenn die Fans fasziniert die Spiele der englischen Premiere League verfolgten: «Unser grosser Traum war es, einmal an einem offiziellen Wettbewerb ein Spiel gegen England austragen zu können», erzählt Thorsteinsson.
Am Montag wurde dieser Traum wahr. Island spielte im EM-Achtelfinal gegen England – und bezwang England. Es war eine der grössten Sensationen der Fussballgeschichte – zu vergleichen mit dem «Wunder von Bern», dem Sieg Deutschlands im WM-Final 1954 gegen Ungarn, dem Coup der USA an der WM 1950 gegen England oder dem Sieg Nordkoreas 1966 gegen Italien.
Abgesehen von zwei olympischen Silbermedaillen (1956 durch den Dreispringer Vilhjalmur Einarsson und 2008 durch die Handballer) haben isländische Athleten international nur an «den Spielen der kleinen Staaten von Europa» etwas zu lachen, wenn sie sich im Zweijahresrhythmus mit den Leidensgenossen aus San Marino, Liechtenstein, Zypern, Luxemburg, Andorra oder dem Vatikanstaat messen. Mit 1143 Medaillen führen die isländischen Sportsfreunde die ewige Bilanz dieses Anlasses an – vor Zypern (mit 1134 Medaillen) und Luxemburg (997). Es ist das einzige Klassement im internationalen Sport mit Island an der Spitze.
Trotz der grossartigen Erfolge der Fussballer dürfte sich daran in Frankreich kaum etwas ändern. Denn vom finalen Triumph ist Island noch drei Spiele entfernt – und schon am Sonntag im Viertelfinal gegen den Gastgeber könnte die schönste Geschichte dieses Fussballsommers zu Ende gehen. Thorsteinsson nimmt es sportlich: «Wir hatten an diesem Turnier nie etwas zu verlieren – und jedes Spiel ist das grösste Sportereignis in der Geschichte des Landes.»
So oder so wird das Stade de France am Sonntag auch in nordischer Hand sein. Die Isländer werden ihr Team euphorisch und lautstark unterstützen – mit ihrem bereits legendär gewordenen Schlachtruf «Hu, Hu, Hu». Woher dieses martialische Gebrüll stammt, kann auch Verbandspräsident Thorsteinsson nicht sagen. Was er aber sicher weiss: «Selbst Cristiano Ronaldo fuhr der Schrecken durch die Glieder.»Übrigens: Am vergangenen Wochenende wählte Island mit dem Historiker Gudni Th. Jóhannesson einen neuen Präsidenten. Von 245'000 Wahlberechtigten stimmten 185'000 ab. Der Rest ist in Frankreich.