5.15 Uhr, mein Wecker klingelt. Ich rufe Jeffrey an. Und tatsächlich: er ist auch wach. Um 5.50 Uhr kommt er mich abholen. Jeffrey ist Taxifahrer in Lambaréné, irgendwo im Dschungel Gabuns. Die Bedenken über seine Zuverlässigkeit sind weg. Diejenigen über sein Auto noch immer nicht ganz. Die Türe kann ich von aussen nicht öffnen, der Griff ist abgefallen. Das und der grosse Sprung über die Frontscheibe sind die offensichtlichen Mängel. Aber egal: Aus dem Wagen dröhnt laute Musik. Während wir durch die Nacht und um viele Schlaglöcher zum Hafen schlängeln, rappt Lord Helkhaass den letzten Schlaf aus mir:
Einige Schatten sind morgens um 6 Uhr in der Dunkelheit am Hafen zu erkennen. Oder besser: am Ort, wo mein Schiff nach Port-Gentil ablegt. Eigentlich steht einfach ein nicht fertiges Gebäude am Ufer und eine Treppe führt die Uferböschung runter. Unten erkenne ich das Schiff. So auf den ersten Blick: Es könnte der schwimmende Bruder von Jeffreys Taxi sein. Gut, ist's dunkel.
Desailly begrüsst mich persönlich. Ein Weisser auf seinem Boot – das kommt anscheinend nicht jeden Tag vor. Wie es aussieht, macht er heute den Schiffsjungen, gestern noch verkaufte er mir unter dem vergilbten Sonnenschirm das Ticket für 15'000 Francs (ca. 25 Franken). Abfahrt ist erst um 7 Uhr. Desailly wollte eigentlich, dass ich schon um 5.30 Uhr da stehe. Denn das Beladen des Schiffes, das brauche Zeit.
Tatsächlich sind bald alle Passagiere da und ein Gepäckstück nach dem anderen wird auf dem Dach oder im Bauch des Schiffes verstaut. Alle warten und beobachten das genau. Einige Bausteine des unfertigen Gebäudes dienen als Sitzgelegenheiten, am Handy spielt fast niemand rum. Smartphones sind hier noch nicht so verbreitet. Man wartet einfach.
Im leichten Regen entdecke ich einen jungen Mann mit drei Zeilen riesigen Lettern auf seinem T-Shirt: Welt-Meister-Innen. Ich frage ihn, ob er wisse, was da drauf stehe. Als ich es mit «champions du monde» übersetze, lacht er. Die weibliche Form lasse ich weg – so früh am Morgen ist mein Französisch noch nicht bereit für allfällige Diskussionen.
Während der Tag langsam erwacht, wird auch die Umgebung deutlicher erkennbar. Hinter uns mottet Abfall vor sich hin. Katzen und Hühner suchen darin nach Essbarem.
Etwas weiter weg haben die ersten Marktfrauen schon ihre Sandwich-Stände aufgestellt. Französische Baguettes mit Ei, Avocado, Salat und ein paar undefinierbare Saucen locken. Ich will meinem Magen mögliche Kapriolen auf dem Schiff ersparen und nehme nur ein unbelegtes Brot und Erdnüsse.
Dann heisst es endlich: Einsteigen! Eine sehr wacklige Leiter führt auf das Boot. Da die zweitoberste Stufe nur noch an einer Seite hält, ist ein grosser Schritt erforderlich. Die älteren Damen in ihren Kleidern beschweren sich zurecht. Nach einigen Minuten und einigen Fast-Stürzen von der Leiter findet die Bootscrew doch noch eine «richtige» Treppe. Jetzt geht alles schnell.
Das Boot wirkt auch von innen nicht vertrauenswürdiger. 60 bis 80 Gäste drängen sich auf die engen Zweierbänke. Gut die Hälfte erhält eine Schwimmweste. Die Fahrt auf dem Ogooué dauert länger als erwartet. Weil bald einmal der Motor nicht mehr auf höchster Stufe laufen kann. Unterwegs wird er später fliegend gewechselt.
Rasch wird aus dem vielleicht 200 Meter breiten Fluss ein etwa ein Kilometer breiter Strom, dann verliert er sich wieder im Flussdelta vor Port-Gentil in kleineren Seitenarmen. Links und rechts während sechseinhalb Stunden: einfach nur Dschungel.
Lustig wird es kurz vor Schluss. Als es heftig zu regnen beginnt. Erst jetzt zeigt sich, dass das Boot (oben) nicht ganz dicht ist. Eine Dame drei Reihen vor mir wird plötzlich aus einem Loch im Dach geduscht. Man glaubt gar nicht, wie schnell diese afrikanischen Mammas in ihren bunten Kleidern sich in so einem Fall bewegen können.
Alle lachen. Ausser die pflotschnasse Dame in ihrem Kleid mit der Aufschrift «espoir perdu». Könnte nicht passender sein. Schiffsjunge Desailly muss sich ein Donnerwetter anhören. Doch er reagiert gelassen: «Ich habe kein Geld, um das zu flicken. Wenn ihr alle 17'000 statt 15'000 Francs zahlen würdet, könnte ich es reparieren. Aber dann reklamiert ihr, dass die Fahrt zu teuer sei.»
Der flotte Spruch hilft nichts. Desailly wird im Regen kurz vor der Ankunft in Port-Gentil nach draussen und auf das Dach geschickt. Wenig später kommt er durchnässt wieder in die Kabine. Das Loch ist fürs erste geflickt, aber der Sitz der Dame natürlich noch nass. Kurzerhand zieht sich Desailly das Shirt aus, wringt es aus und nutzt es als Trocknungstuch. Während die Männer johlen, schmachten die Frauen beim Anblick des trainierten Oberkörpers. Selbst die Mamma kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ich weiss nicht, warum Desailly als Ticketverkäufer und Schiffsjunge durchs Leben tingelt. Er müsste Werbestar für das saugstärkste Wischtuch der Welt werden.