Schöner hätte das Drehbuch für Yann Sommer, Inter Mailand und seine Fans nicht sein können. Ausgerechnet im Derby gegen die AC Milan gelingt der letzte Schritt zum Meistertitel. Dank des 2:1 am Montagabend gewinnt Inter seinen 20. Scudetto, das bedeutet: zweiter Stern auf der Brust. Und vor allem ist Rivale Milan mit seinen 19 Meisterschaften distanziert.
Damit ist der Schweizer Nationaltorhüter Sommer, 35-jährig seit vergangenem Dezember, zum zweiten Mal in Serie Meister in einer der europäischen Top-Ligen. Nur: Dieser Titel mit Inter Mailand schmeckt ganz anders als jener mit Bayern München vor einem Jahr. Mehr noch: Man darf ihn sogar als riesige Genugtuung betrachten nach dem Bayern-Frust vor einem Jahr. Denn Sommer hat eindrücklich bewiesen, ein europäischer Top-Goalie zu sein. Ein Gefühl, das man rund um seine Bayern-Zeit etwas verloren hatte.
Rückblende. Als Sommer im Januar 2023 von Mönchengladbach zu Bayern München wechselt, tut er das, um endlich wieder einmal einen Titel zu gewinnen. Jene sechs aus Basler Zeiten sind schliesslich schon eine gefühlte Ewigkeit her (Meister 2011-14, Cupsieger 2012). Doch die «Mission-Bayern» missrät ziemlich. Bald folgt das Aus im DFB-Pokal. Bald das Aus in der Champions League.
Und Sommer muss merken, dass er als Ersatz für den verletzten Manuel Neuer unter besonderer Beobachtung steht. Die Urteile der Experten sind gnadenlos. Auch dann, wenn ein Gegentor nicht wirklich Sommers Schuld ist (Beispiel Champions League, auswärts gegen Manchester City). Erschwerend kommt hinzu, dass sich kaum einmal einer aus dem Verein hinter Sommer stellt. Ob Präsident (damals Oliver Kahn), Sportdirektor (damals Hassan Salihamidzic) oder die Trainer (Julian Nagelsmann und Thomas Tuchel), keiner ergreift öffentlich je das Wort für Sommer.
Mit jeder Woche verliert Sommer etwas mehr von seiner Ausstrahlung und Präsenz, die ihn sonst so auszeichnen. Das halbjährige Abenteuer bei den Bayern droht vollends zum Alptraum zu werden, als auch noch der Meistertitel zu entrinnen droht. Doch dann wirft Borussia Dortmund den sicher geglaubten Titel am letzten Spieltag weg. Ohne zu wissen, warum, werden die Bayern doch noch Meister. Sommer muss bei den Feierlichkeiten mitansehen, wie sich der verletzte Manuel Neuer in den Mittelpunkt drängt.
All das hat den 35-Jährigen tief getroffen. Öffentlich zugegeben würde Sommer das nie. Er mag auch über niemandem bei den Bayern ein schlechtes Wort verlieren. Das verbieten ihm sein Anstand und sein Bewusstsein fürs eigene Image. Auch als er Anfang August nach Mailand weiterzieht, gibt er vor, alles in München sei bestens gewesen. Dabei hat der Wechsel auch etwas von einer Flucht. Sommer spürt, dass er bei den Bayern mit Neuers Rückkehr keine Chance mehr hätte. Er tätigt den Wechsel auch mit Blick auf die EM 2024. Weil er seine Position als Nummer 1 in der Nati nur als Stammtorhüter aufrechterhalten kann.
Inter Mailand wird zum Glücksfall. Sommer spürt vom ersten Moment an jene Nestwärme, die er zuvor vermisst hat. Er ist der Wunschtransfer von Trainer Simone Inzaghi, als es darum geht, André Onana zu ersetzen. Gut, der Einstand bei einem Testspiel gegen Salzburg misslingt gründlich, und die grossen Gazetten lassen keinen Zweifel offen, dass die Kritik auch in Italien hart sein kann. Aber von diesem einen Ausrutscher lässt sich Sommer nicht unterkriegen. Im Gegenteil. Er zeigt von nun an Woche für Woche, welch toller Rückhalt er auch im gehobenen Alter sein kann.
Allein schon die Zahlen in der Serie A sind eindrücklich: Ein einziges Gegentor bei den ersten fünf Siege gleich zu Beginn. 17 Mal zu null gespielt. Nur 18 Gegentore überhaupt, es sind die besten Werte in Europas Topligen. Heisst: Sommer trägt seinen Teil zum ungefährdeten Meistertitel bei. Dass Inter im Champions-League-Achtelfinal gegen Atletico Madrid im Penaltyschiessen ausscheidet und auch in der Coppa Italia im Achtelfinal scheitert (an Bologna), sind die kleinen Wermutstropfen.
Aber Sommer hat in diesem Jahr das Vertrauen in sich selbst wiedergefunden. Er hat die Ausstrahlung zurück, die ihn bei Mönchengladbach jahrelang auszeichnete. Kurz: Seine Gemütslage ist eine ganz andere als vor einem Jahr, wenn er Ende Mai zur Schweizer Nationalmannschaft einrückt. Er hat gezeigt, dass sein Anspruch, auch an der EM die Nummer 1 zu sein, gerechtfertigt ist.
Drei Jahre sind vergangen, seit sich Sommer in der ganzen Schweiz zum Helden machte. Seine Penalty-Parade gegen Kylian Mbappé führte die Nati in den EM-Viertelfinal. Vielleicht werden die Tage an der EM in Deutschland seine letzten mit der Nati. Aber das letzte Kapitel seiner Heldentaten muss noch nicht geschrieben sein.
Was Neuer dieses Jahr ja nicht geschafft hat.