Schweiz gegen Deutschland ist grundsätzlich ein Duell David gegen Goliath. Mit Blick auf die letzten Turniere ist die Nati aber alles andere als ein Zwerg. So atmete ganz Deutschland auf, als Toni Kroos in diesem Februar via soziale Medien seine Rückkehr verkündete. Nach der paneuropäischen EM hatte er sich im Sommer 2021 aus dem deutschen Nationalteam verabschiedet, zu jener Zeit trauerte man ihm nicht nach. Zumal ein Umbruch gefordert worden war, den man aber nicht mit dem Mittelfeldmotor sah. Heute hat sich die Gefühlslage im Land dank Kroos schlagartig verändert. Aus Hoffnung wurde Euphorie.
Und in der Schweiz? Da muss dieser eine Satz vor dem Vergleich der beiden Fussballgrössen reichen: Es gibt nur einen König Granit Xhaka.
Toni Kroos spielt seit weit über einem Jahrzehnt für Topklubs. Der 34-Jährige ist ein Pokalhamsterer und hat bis auf den Europameistertitel alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Weltmeister mit Deutschland 2014, sechsfacher Champions-League-Sieger (5× Real Madrid, 1× Bayern München) und auch sechsfacher Klubweltmeister. Viermal gewann er mit den Königlichen die Meisterschaft. Mit Bayern München ist ihm dasselbe dreimal gelungen. Hinzu kommen nationale Cupsiege und so weiter.
Granit Xhaka hat mit Leverkusen soeben das Double geholt, und das ist ein Husarenstück, weil der Klub allerhöchstens zu den erweiterten Titelanwärtern zählte. Aber Xhaka kam, sah und siegte. Er hievte die Werkself auf ein ungleich höheres Niveau und war das wichtigste Puzzleteil für die erfolgreichste Saison aller Zeiten. Zweimal gewann der 31-Jährige zudem mit Arsenal den Cup und mit Basel zwei Meisterschaften. Dazu darf sich Xhaka U17-Weltmeister mit der Schweiz nennen.
Man kann es drehen und wenden, wie man mag. Xhaka ist der einflussreichste, stilprägendste Fussballer, den die Schweiz jemals hatte. Und er steht für eine Epoche, in der das kleine Schweizerland Erfolge feierte, wie das in Zukunft nur noch schwer zu überbieten sein dürfte. Seit 2014 war die Nati nicht nur an jedem Grossanlass dabei, sie kam auch immer in den Achtelfinal – das können die Deutschen von sich nicht behaupten.
Dabei stets im Schweizer Mittelpunkt: Xhaka. Inzwischen nimmt er auch Einfluss auf das Spielsystem von Murat Yakin, das heute jenem des Arbeitgebers Leverkusen ähnelt. Der Trainer und sein Captain tauschen sich regelmässig aus, und es gilt als gesichert, dass Xhaka für die Nati die Dreierkette wollte – und sie auch bekam.
Selbstredend hat Kroos grossen Einfluss auf Deutschland, allein schon deswegen, weil er ein Sieger ist. Und dieses Gen nun in die Mannschaft bringt. Vor allem gibt er dem Nationalteam Sicherheit und Stabilität kraft seiner Aura und Anwesenheit. Wo Kroos sich aufhält, ist der Mittelpunkt des Spiels. Er ist wie Xhaka der Verbindungsspieler, nach vorne wie nach hinten. Kroos' Rückkehr ins Nationalteam war auch an Bedingungen geknüpft. Er musste das Gefühl haben, dass die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche EM mit Deutschland gegeben ist. So sagte das sein Trainer Julian Nagelsmann. Und Kroos wollte positive Veränderungen und die richtigen Schritte, es musste mit der Nation wieder aufwärtsgehen.
Xhaka ist der Captain, ein Leader, ein Stimmungsspieler auch. Und Rekordnationalspieler mit 127 Auftritten. Aber während bei seiner Anwesenheit die Nebenspieler auf dem Platz bisweilen gehemmt wirken und ein Denis Zakaria oder ein Remo Freuler nicht wirklich aufblühen, ist das mit Kroos anders: Robert Andrich und Ilkay Gündogan legen dank der Präsenz des Routiniers noch eine Schippe drauf.
Granit Xhaka ist Linksfüsser, mit diesem kann er alles. Spielt Laserpässe in die Tiefe, aber auch gerne mal den Chip oder den Kurzpass. Vor allem ist er jederzeit anspielbar, und es nervt ihn, wenn das Geschehen nicht über ihn läuft. Xhaka hat einen guten Schuss, und er trifft durchaus auch ins Tor. Wie Kroos braucht er ständig den Kontakt zum Ball.
Kroos ist Rechtsfüsser und ebenfalls der Denker und Lenker im defensiven Mittelfeld. Auch bei ihm ist es immer so: Das Spiel muss über ihn laufen. Seine Schussgewalt ist grandios, gefürchtet seine Freistösse. Diesbezüglich hat er Xhaka einiges voraus, in der Antizipation wohl auch.
Die Statistiken sprechen Bände. In jeder seiner zehn Saisons mit Real Madrid lag die Passgenauigkeit von Kroos bei über 92 Prozent, in den vergangenen zwei Jahren betrug sie gar 95 Prozent. In den beiden EM-Spielen war er ebenfalls die dominierende Figur. Gegen Ungarn hatte Kroos 145 Ballkontakte und spielte 124 Pässe. Das sind die zweitmeisten, die in einer EM-Partie ein Mittelfeldakteur jemals gespielt hat. Gegen Schottland lag seine Passquote bei mehr als 99 Prozent, dabei kamen von 102 Pässen deren 101 bei den Mitspielern an – gefühlter EM-Rekord.
In der Bundesliga war Xhaka der Taktgeber schlechthin. Er spielte die meisten Pässe aller Profis, und von den 3189 fanden starke 93 Prozent ins Ziel. Gegen Schottland wurde er nun aber manngedeckt, weshalb Xhaka noch 66 Ballkontakte hatte und 51 Pässe (41 kamen an). Nachdem es gegen Ungarn noch 99 Ballkontakte gewesen waren, wobei von 85 Zuspielen deren 76 ihr Ziel fanden.
Idealerweise können Pässe über 15 Meter gepresst werden, weil man dann weiss, wo das Spiel weitergeht und damit angegriffen werden soll. Xhaka und Kroos sind Akteure, die dieses Pressing bewusst mit kurzen Pässen brechen. Mit ihrem Zurückfallen Richtung Verteidigungslinie fordern sie auch die Gegner heraus, sich an ihnen zu orientieren und etwas zu tun. Wobei Kroos hier weniger durchschaubar ist, weil er sich eher in den Halbraum nach links zurückfallen lässt und Xhaka eher ins Abwehrzentrum. Sieht Kroos eine Möglichkeit, das Spiel zu beschleunigen, macht er das auch. Xhaka ist diesbezüglich ein bisschen langsamer, aber letztlich transportieren beide den Ball Schritt für Schritt nach vorne.
Bei Granit Xhaka hat man schon immer das Talent gesehen. Aber noch mehr den Willen und den Fleiss, es ganz nach oben zu schaffen. So dauerte es beim 31-Jährigen einige Jahre und Stationen, bis man seit der abgelaufenen Saison sagen kann: Jetzt ist er Weltklasse und mindestens im Klub ein Bessermacher. Das hatte viel mit einem Reifeprozess zu tun und mit der Ausbildung zum Trainer beim Fünftligisten SC Union Nettetal; von dieser profitiert er auf dem Platz ungemein, wie er das selbst sagt. Wie Kroos wurde auch Xhaka in seinen Anfangsjahren weiter vorne eingesetzt. Doch längst kommen seine Qualitäten im defensiven Mittelfeld am besten zur Geltung.
Über Kroos ist das ruhmreiche Urteil gemacht, es hängt nicht mit dem Ausgang der EM zusammen. In seinen jungen Jahren einmal, als er nicht in der zweiten Mannschaft der Bayern, sondern lieber schon in der Bundesliga für Leverkusen spielen wollte, gab es auch Kritik an seiner Leistungsbereitschaft. Mit der Zeit wurde er der fleissige Arbeiter, der sich zusehends optimierte. Als Kroos die Bayern im relativen Unfrieden verliess, tat er dies auch aus Gründen geringer (finanzieller) Wertschätzung. Dabei war er damals schon auf Topniveau.
Spätestens bei Real Madrid kam man dann nicht mehr darum herum, ihm das Attribut Weltklasse umzuhängen. Wobei es immer wieder Kritik gab an seinem Spiel, und diese kam von der Heimat, zum Beispiel in der Person von Uli Hoeness: «Kroos hat in diesem Fussball nichts mehr verloren», sagte der einst. Und monierte die ständigen Querpässe und die fehlende Dynamik. Heute sagt Matthias Sammer nicht ohne Grund, dass Kroos der beste Spieler dieser EM werden könne.
Bei Granit Xhaka geht die Familie über alles. Da ist sein älterer Bruder Taulant und vor allem sein Papa Ragip, das starke Oberhaupt. Xhaka ist Vater von zwei Mädchen, seine kosovarische Ehefrau Leonita hat er 2017 geheiratet. Kennengelernt haben sich die beiden über den Fussball: Sie arbeitete auf der Geschäftsstelle bei Mönchengladbach, er spielte dort Fussball. Und ja, es ist die grosse Liebe.
Kroos kommt aus der DDR. Er wurde 1990 in Greifswald geboren, die Stadt gehörte damals noch zur Deutschen Demokratischen Republik. Er gilt ebenfalls als Familienmensch, hat drei Kinder, und die Familie ist mit ein Grund, weshalb der 34-Jährige nach der EM topfit und auf Topniveau aufhört. Weiterführen wird er aber sein soziales Engagement über die eigene Stiftung und den Podcast ‹Einfach mal Luppen›, den er mit dem Bruder Felix herausgibt. Und immer mal wieder einen Primeur drin hat – zum Beispiel den eigenen Rücktritt vom Fussball. (aargauerzeitung.ch)