Es gibt Wochenenden, da geht es im Sekretariat des Zürcher Fussballverbands hoch zu und her. Vier, fünf Stunden sitzt dann eine Mitarbeiterin am Telefon, sie ruft hier einen Schiedsrichter an und dort eine Schiedsrichterin. Und das alles, damit kein Fussballspiel im Kanton ins Wasser fällt.
700 Männer und Frauen pfeifen in Zürich gerade. 800 bräuchte es. «Die Situation ist kritisch», sagt Andreas Baumann, der Schiedsrichter-Obmann des grössten Regionalverbands der Schweiz. So oder ähnlich klingt es überall im Land. In der Ostschweiz bräuchten sie 530 Schiedsrichter und haben 495. In Bern bräuchten sie 620 und haben 580. In der Innerschweiz bräuchten sie 500 und haben 430. Insgesamt fehlen laut dem Schweizerischen Fussballverband 500 Unparteiische.
Mangel allenthalben also. Neu ist das Problem nicht. Aber es geht einfach nicht weg.
88'500 Fussballspiele fanden letzte Saison auf Schweizer Fussballplätzen statt. Im schlimmsten Fall müssen die Regionalverbände zum letzten Mittel greifen, der kurzfristigen Spielabsage. In Zürich etwa passierte das in der zweiten und dritten Liga ein paar Mal, ganze Runden mussten verlegt werden. Meistens geht es anders. Etwa, weil Schiedsrichter auch mal drei, gar vier Spiele in einer Woche pfeifen. Weil die Verbände in mühseliger Kleinstarbeit Schiedsrichter suchen. Ideal sei das nicht, sagt Andreas Baumann. Aber besser als eine Absage allemal.
Gerade läuft in der Schweiz eine Aktionswoche, «Week of the referee» heisst das Ganze. Die Schiedsrichter, die sonst immer als Erste auf den Platz laufen, dürfen das jetzt ausnahmsweise als Letzte tun. Die Spieler warten auf dem Platz. Und spendieren warmen Applaus.
Das alles ist gut gemeint, soll eine Geste der Wertschätzung sein, nur: Sonst ist es mit dem warmen Applaus oft nicht weit her. Andreas Baumann zählt «gesteigerte Aggressivität» und «sehr unsportliche Zuschauer» als Gründe für den Schiedsrichtermangel auf. Andere Regionalverbände berichten – neben den Spätfolgen der Pandemie und der abnehmenden Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement – ähnliches. Der SFV weist zudem auf die wachsende Beliebtheit des Fussballs hin. Knapp 4800 registrierte Schiedsrichter gibt es derzeit – ähnlich viele wie vor zehn Jahren. Doch der Bedarf ist gestiegen, weil es immer mehr Fussballerinnen und Fussballer und mehr Teams gibt.
Marcel Stofer leitet die Schiedsrichter-Kommission des Ostschweizerischen Fussball-Verbands OFV. Auch er sagt, es gebe in seiner Region mehr Entgleisungen und mehr Übergriffe gegen Schiedsrichter als früher. Stofer betont, dass er nicht von einer Verrohung der Sitten sprechen wolle. Aber der Trend sei nicht gut.
«Früher hatten wir drei, vier solche Fälle pro Saison», sagt Stofer. Jetzt seien es eher 10. Bei 4000 Spielen im OFV-Gebiet pro Saison klingt das erst einmal nicht nach viel. Aber man dürfte, sagt Stofer, eines nicht vergessen: Für die betroffenen Schiedsrichter seien das einschneidende Erlebnisse, und es könne sein, dass sie danach «den Pickel verwerfen».
Genau das, Rücktritte, können sie in den Regionen nicht brauchen. Marcel Stofer verlangt deshalb einen Kulturwandel, und zwar einen, der ganz oben anfängt. Er glaubt, dass es auf den Fussballplätzen vom Rheintal bis ins Mittelland an Respekt für die Schiedsrichter fehlt, weil das in den grossen Stadien der Welt, im Bernabeu und im Anfield, auch so ist. «Die FIFA muss vorangehen und sagen: Wenn der Schiedsrichter pfeift, bleibt der Ball liegen, und wer reklamiert, sieht umgehend Gelb», sagt Stofer.
Die Wertschätzung, der Respekt: Das ist der eine Punkt, der immer wieder auftaucht. Der andere – er hängt mit dem ersten zusammen – ist das Geld. Wer wie viel erhält, ist national geregelt und abhängig von Faktoren wie Ligahöhe und Reisedistanz. Für ein Drittligaspiel, Anreise höchstens 50 Kilometer, gibt es 120 Franken. Für eine A-Junioren-Begegnung, 101 bis 125 Kilometer pro Weg, 160 Franken.
Zu wenig sei das, finden die Schiedsrichter-Obmänner der 13 Teilverbände einhellig. 2011 gab es die letzte Erhöhung, zehn Franken pro Kategorie und Spiel. Aber im Wesentlichen ist in den letzten 25 Jahren alles gleich geblieben. Sonst, sagt Marcel Stofer, verdiene niemand mehr, was er vor 25 Jahren verdient habe. Deshalb sei es nun an der Zeit für eine Lohnerhöhung. 20 Prozent schweben ihm und den anderen Schiedsrichter-Chefs vor. Der Ruf nach einer Erhöhung, die am Ende die Vereine berappen müssen, wurde bei der SFV-Zentrale in Bern deponiert. Der schreibt auf Anfrage, dass derzeit dazu eine Vernehmlassung laufe.
Auch Stephan Fässler findet, dass die Bezüge erhöht werden müssen. Doch der Co-Präsident der Schiedsrichterkommission des Fussballverbands Nordwestschweiz sieht auch noch andere Wege, um den Schiedsrichtermangel zu bekämpfen. In seinem Verband läuft gerade ein Pilotprojekt, das die Rekrutierung ganz anders angeht als bisher.
In den anderen Verbänden rekrutieren die Vereine die Schiedsrichter. Sie müssen eine gewisse Anzahl Schiedsrichter stellen, abhängig davon, wie viele Teams sie stellen. Tun sie das nicht, wird eine Busse fällig oder gar eine Mannschaft vom Ligabetrieb ausgeschlossen. Fässler und sein Team haben den Spiess umgedreht. In der Nordwestschweiz erledigt der Verband nun die ganze Arbeit. Er hat einen Challenge-League-Schiedsrichter als Projektleiter für die Rekrutierung beauftragt, Pensum: 60 Prozent. Der geht nun neue Wege, rekrutiert an Universitäten und an anderen Orten. Die Ausbildung kann neuerdings auch digital absolviert werden.
Das alles, sagt Fässler, sei nach ein paar Anfangsschwierigkeiten, die auch mit Corona zusammenhingen, «ein riesiger Erfolg». Zuletzt hat sich der Schiedsrichterbestand in seinem Verband von 276 auf 320 erhöht, in nur vier Monaten. Es sind Zahlen, die Hoffnung machen.