Es sind Fabelzahlen, die Niclas Füllkrug im Nationaltrikot aufweist. 13 Tore in 19 Einsätzen sind ohnehin beeindruckend, noch verrückter wird es jedoch, wenn man beachtet, dass der deutsche Stürmer 13 Mal nur eingewechselt wurde. Als Joker netzte er siebenmal ein. Wenn er von Anfang an spielte, traf er in fünf von sechs Fällen und kommt insgesamt auf sechs Tore. Alles in allem trifft Füllkrug für die DFB-Elf alle 58 Minuten. Fabelzahlen halt.
Und trotzdem sitzt Füllkrug unter Julian Nagelsmann mit wenigen Ausnahmen meist auf der Bank. Nur zweimal kam der 31-Jährige in den bisher elf Partien seit dem Amtsantritt des neuen Trainers im letzten September mehr als eine Halbzeit zum Einsatz. Dass er trotzdem Nagelsmanns Vertrauen geniesst, zeigt die Tatsache, dass Füllkrug in jedem Spiel, in dem er auf der Bank sitzt, eingewechselt wird. So auch gegen die Schweiz, als der BVB-Profi in der 92. Minute nicht nur seine Kopfball-Stärke, sondern auch – einmal mehr – seine Joker-Qualitäten unter Beweis stellt und Deutschland mit dem 1:1-Ausgleich zum Gruppensieg schiesst.
Darin besteht das Dilemma von Füllkrug. Obwohl er sagt, dass er es sich nicht gewohnt sei, als Joker zu spielen, funktioniert er als solcher hervorragend. Auch Trainer Nagelsmann ist sich der zweischneidigen Situation seines bulligen Mittelstürmers bewusst: «Das ist Freud und Leid für ihn zugleich, dass er die Rolle gut erfüllt.» Gerade in solchen Momenten wie der Schlussphase sei ein Füllkrug gefragt, meinte Nagelsmann. Dabei schwingt mit, dass der Trainer auch Momente sieht, in denen der Stürmer dem Team weniger hilfreich sein kann. Der 36-Jährige machte Füllkrug aber auch Hoffnung: «Er liefert Argumente für beide Sachen, als Joker weiter zu fungieren, weil er es super macht, oder eben auch mal von Beginn an.»
Wer am Samstag im Achtelfinal (21 Uhr, Gegner noch nicht bekannt) spielen wird, lässt Nagelsmann offen. Sowohl Füllkrug als auch Kai Havertz, der in den drei Gruppenspielen jeweils die Position des Stürmers in der Startformation bekleidete, hätten Einsatzchancen. Der Trainer lässt sich mit dieser Aussage selbstverständlich nicht in die Karten blicken – und lobt deshalb nicht nur Füllkrug, sondern ebenfalls Havertz: «Auch Kai hatte drei gute Chancen. Er hat ein gutes Spiel gemacht.»
Havertz' Vorteil liegt in Nagelsmanns variablem System in der Offensive. Der 25-Jährige ist kein geborener Stürmer und weicht auch mal auf die Flügel aus, um den hinter ihm agierenden Florian Wirtz, Jamal Musiala oder auch Ilkay Gündogan Platz im Zentrum zu machen. Füllkrug hingegen eilt auch wegen seiner kräftigen Statur bei einer Körpergrösse von 1,89 m der Ruf eines klassischen Neuners voraus, der ihm in diesem Fall eher schadet.
Dabei merkte er in der Vergangenheit wiederholt an, dass er gar nicht der altmodische Typ Mittelstürmer sei, der in der Spitze auf Bälle warte und diese dann verwerte. Vielmehr lässt er sich gerne auch mal zurückfallen, um sich so in den Spielaufbau einzubinden. Profilieren tut er sich im Nationaltrikot bisher aber vor allem aufgrund seiner brillanten Torquote. Und mit dieser löst er in Deutschland eine Stürmerdebatte aus.
Denn weil er in den Aspekten, die jeder Laie sehen kann, besser ist als Havertz, der in zehn Einsätzen unter Nagelsmann trotz deutlich mehr Spielzeit als Füllkrug nur vier Tore erzielte, schreien nun viele nach der Nummer 9 Deutschlands. Füllkrug, der bei den Fans auch mit seiner sympathischen und im modernen Fussball erfrischenden Art punktet, würde sich hingegen nie so aufdrängen.
Nach dem Spiel lobte er sowohl beim SRF als auch bei der ARD vor allem Vorbereiter David Raum: «Es war ein wichtiges Tor. Super Flanke von David, der mit einem Kontakt noch dafür gesorgt hat, dass die Abwehrreihe fällt und ich eine bessere Position meinem Gegenspieler gegenüber hatte.» Ohnehin hätte nicht nur er funktioniert, «sondern alle Joker haben gut gespielt».
Die ehrliche Freude, überhaupt zu Einsätzen zu kommen an dieser Heim-EM, ist Füllkrug auch in den Interviews anzusehen. «Es ist riesig für mich», so der zweifache EM-Torschütze, «ich freue mich ganz, ganz doll.» Solche Momente mit Familie und Freunden im Stadion erleben zu können, sei etwas Besonderes.
Der Mann mit der Zahnlücke will dem Team auch ohne Startelf-Einsatz helfen. Damit passt er auch perfekt ins Gefüge von Nagelsmann, der schon vor der EM klarstellte, nicht die besten Spieler, sondern das beste Team zu nominieren. Füllkrug erfüllt die Rolle des Spielers, der auch von der Bank Leistung bringen und gar Partien entscheiden kann, perfekt. Ausserdem droht bei ihm kein Stunk, wenn er nicht in der Startformation steht. «Lücke» stellt sich stets in den Dienst der Mannschaft und hilft dem DFB-Team auf seine Weise – vielleicht im Achtelfinal sogar von Beginn an.