Als Lara Gut-Behrami das Restaurant des Schweizer Teamhotels betritt, tropft Schmelzwasser auf das Dach. Es ist zu warm in St. Anton an diesem Donnerstagnachmittag. Nach dem Abfahrtstraining haben sich deswegen einige Athletinnen über den Zustand der Piste beschwert, auch im Rennen vom Samstag sind die Bedingungen nicht perfekt. Die Tessinerin hingegen geht entspannt damit um und äussert ihr Verständnis für die Verantwortlichen: «Sie haben ihr Bestes probiert.» In über 17 Jahren im Ski-Weltcup hat die 33-Jährige gelernt, sich nicht von äusseren Faktoren beeinflussen zu lassen.
Sie sagten einmal, im Sport gehe oft der Mensch hinter der Leistung vergessen. Darum als Erstes die Frage: Wie geht es dem Menschen Lara Gut-Behrami?
Lara Gut-Behrami: Danke, dass Sie fragen. Es geht mir gut.
Sie meinten damit, dass nicht nur die sportliche Leistung definiert, wie es Ihnen geht.
Genau. Nehmen wir meinen Startverzicht in Sölden. Danach wurde wild spekuliert: Hat sie ein Burn-out? Ist sie deprimiert? Es ging sogar so weit, dass mein Ehemann gefragt wurde, ob zwischen uns noch alles okay sei. Dabei habe ich mich einfach sportlich nicht bereit gefühlt.
Aber für viele war klar: Es muss eine Lebenskrise sein.
Als Mensch ging es mir gut. Der Sommer war unglaublich. Und auch im Oktober fühlte ich mich gut. Einzig auf der Piste war es nicht gleich. Als Athletin muss man irgendwann lernen, zu unterscheiden. Man hat lange das Gefühl, dass der sportliche Teil der wichtigste im Leben ist. Und verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist mir unheimlich wichtig, was ich mache. Ich liebe den Sport, aber er ist nur ein Teil von meinem Leben und auch nicht immer der schönste oder beste.
Wie meinen Sie das?
Dass man als Sportlerin Angst davor hat, sich einzugestehen, dass es noch anderes gibt. Weil man denkt, man widme sich dann nicht mehr ausreichend dem Sport. Aber das stimmt nicht. Irgendwann beginnen im Leben auch andere Kapitel. Vielleicht nicht so voller Adrenalin, wie wenn man mit 140 km/h eine Abfahrtspiste hinunterfährt. Aber deswegen nicht schlechter.
Wie muss man sich die Privatperson Lara Gut-Behrami vorstellen? Als Sportlerin führen Sie ein sehr strukturiertes Leben. Darf es als Ausgleich auch einmal chaotisch sein?
(Lacht.) Nein, das schon nicht unbedingt. Vieles überträgt sich ins Privatleben. Zum Beispiel, dass es normal ist, dass man Aufgaben erledigt, auch wenn man gerade nicht so grosse Lust darauf hat. Oder dass ich Dinge, die ich mir vornehme, präzis machen will. Mir tut gut, dass Valon (Behrami, ihr Ehemann; Anm. d. Red.) und ich nicht 100 Prozent gleich ticken. Ich bin durch ihn etwas lockerer geworden, er sagt, ich habe uns mehr Struktur ins Alltagsleben gebracht. Und noch etwas ist anders: Im normalen Leben lasse ich mich viel mehr von Emotionen treiben.
Das gelingt im Sport nicht?
Es ist ein Schutz geworden, dass ich meine Emotionen kontrolliere. Der ständige Wechsel zwischen überglücklich und zutiefst betrübt kostet auf Dauer zu viel Energie in einer Karriere. Ich bin viel ruhiger im Sport. Es ist der Weg, den ich gefunden habe, um so lange dabei zu sein. Ich muss nicht immer lächeln, aber langfristig will ich zufrieden sein. Privat ist das anders, da kann ich viel unmittelbarer leben und die Momente geniessen, ohne bereits vorauszuplanen.
Schliessen sich Spitzensport und Zufriedenheit ein Stück weit aus?
Ein bisschen schon. Selbst wenn du die beste Skifahrerin der Welt bist, gibt es mehr Tage im Jahr, an denen du nicht gewinnst, als solche, die du auf dem Podest beendest. Wir trainieren täglich für die Möglichkeit, zu gewinnen. Wir leiden, um etwas zu erreichen. Ich sehe es bei Valon: Es ist ein friedlicheres Leben, wenn man nicht mehr den Druck des Spitzensportlers hat.
Das Karriereende rückt auch bei Ihnen langsam näher. Wie entscheiden Sie die wichtigen Dinge in Ihrem Leben? Spontan aus dem Bauch heraus oder von langer Hand geplant?
Früher habe ich gedacht, irgendwann kommt der Moment, da spüre ich, dass es so weit ist. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass es nicht so ist. Aber diese Gefühle verändern sich auch.
Inwiefern?
Nach meinem schlimmen Unfall (2017 verletzte sie sich schwer am Knie; Anm. d. Red.) habe ich gedacht, wenn ich noch bis Peking (Olympische Spiele 2022; Anmerkung der Redaktion) durchhalte, ist das gut. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich danach noch Energie habe, um weiterzumachen. Doch dann wurde es noch besser als vorher. Es war nicht so, dass ich viel entspannter wurde, aber ich habe einen neuen Sinn gefunden. Es war nicht mehr länger ein Müssen. Es war eher so, dass ich es darf. Dass ich es mir erlaube, so lange professionell Ski zu fahren, wie es mir Spass macht.
Und wie ist Ihr Gefühl momentan?
Im vergangenen Winter habe ich oft gedacht, das war es jetzt wahrscheinlich. Doch dann kam der Sommer und damit auch neue Motivation. Und ich sagte mir: «Warum nur noch ein Jahr?» Die Olympischen Spiele in Cortina (im Jahr 2026; Anmerkung der Redaktion) wären doch ein schöner Abschluss. Irgendwann muss man sich ein langfristiges Ziel setzen, damit man nicht täglich daran denkt, wann Schluss ist. Aber das Schönste ist die Gewissheit, dass ich etwas habe, das auf mich wartet. Ich habe einen wunderbaren Mann, mit dem ich irgendwann Kinder möchte.
Es gibt auch Mütter im Spitzensport. War das für Sie nie eine Option?
Ich merke, wie sehr mein Leben vom Sport geprägt ist. Und oft fällt es mir schwer, dass ich so wenig Zeit für meine Familie habe. Ich möchte mir als Mutter für meine Kinder Zeit nehmen, genauso, wie es meine Eltern mit mir und meinem Bruder gemacht haben. Ich persönlich wäre nicht in der Lage, Spitzensport und Mutterschaft gut zu koordinieren.
Ihre eigenen Eltern sind in Ihrer Karriere sehr präsent. Wie wichtig ist Ihnen das?
Enorm wichtig. Ich glaube, auch das ist ein Grund, warum ich noch immer aktiv bin. Ich hatte meine Familie immer um mich. Meine Karriere ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir arbeiten seit sehr vielen Jahren gemeinsam daran. Und wir alle können davon leben. Meine Eltern waren immer präsent, immer da für mich und meinen Bruder. Dafür bin ich ihnen enorm dankbar. Es ist ein Zusammensein, ein sich gegenseitiges Unterstützen. Und ich habe meinen Eltern schon gesagt, wenn ich aufhöre, können sie sich ja schon einmal auf die Enkel vorbereiten (lacht).
Sie würden Ihren Kindern eine Karriere als Spitzensportler empfehlen?
Ich will, seit ich klein bin, immer gewinnen – aber das muss nicht sein. Sport ist eine Lehre fürs Leben. Nur schon, dass man auch am Wochenende aufsteht und etwas unternimmt. Ich war schon als Kind jedes Wochenende im Schnee. Es macht mich traurig, wenn ich Kinder sehe, die sich nicht bewegen. Es muss nicht im Schnee sein. Aber man sollte als Kind viel draussen sein können.
Was haben Sie von Ihren Eltern gelernt, das Sie selbst weitergeben möchten?
Vieles. Je älter man wird, je mehr realisiert man, dass die Eltern vieles richtig gemacht haben. Als Teenager ist es normal, dass man seinen eigenen Weg sucht. Dinge, die meine Mutter macht und die mich noch vor zehn Jahren zur Weissglut getrieben haben, mache ich plötzlich auch (lacht). Ich habe es auch schon zu Valon gesagt: «Wir werden immer mehr wie unsere Eltern.»
Was ist Ihnen von der Erziehung Ihrer Eltern besonders in Erinnerung geblieben?
Mein Vater hat schon früh zu mir gesagt: «Entweder du entscheidest selbst – oder es machen andere für dich.» Dieser Grundsatz hat mich geprägt. Und nach diesem lebe ich bis heute.
Kommt daher die Konsequenz in Ihrem Handeln?
Wenn ich selbst entscheide, dann trage ich die Konsequenzen. Niemand anderes ist schuld. Wenn etwas nicht funktioniert, wenn man mit etwas nicht zufrieden ist im Leben, ist es doch noch viel schlimmer, wenn man weiss, dass jemand anderes einen dazu gebracht hat. Mache ich selbst einen Fehler, kann ich sagen: «Das muss ich ändern.» Aber ich kann selbst reagieren.
Dazu gehört, auch einmal Nein zu sagen.
Wenn immer wieder andere Leute kommen und dir sagen, was wie richtig wäre, bist du nur noch fremdgesteuert. Ich habe gelernt zu sagen, was mir guttut und was nicht, was ich mitmache und was nicht. Es gibt immer wieder Situationen, da heisst es: «Aber das muss man doch so machen!» Und dann frage ich: «Wer sagt das?» Und wenn ich nicht einverstanden bin, mache ich es nicht. Mit der Zeit konnte ich so viele Konflikte vermeiden und ruhiger leben.
Ist es auch ein Privileg, Nein sagen zu können? Sie sind auch im Bereich des Marketings nicht bereit, alles zu machen, sonst hätten Sie doch schon längst einen neuen Kopfsponsor gefunden.
Mit der Zeit habe ich gelernt, dass ich nicht überall alles machen möchte. Sponsoren sind ein wichtiger Teil einer Sportlerkarriere, und ich bin dankbar, durfte ich sehr gute Partner an meiner Seite haben. Wenn es nur ums Geld ginge, wäre ich noch auf Social Media, hätte meine Beziehung, mein privates Leben und alles Mögliche verkauft. Ich habe einen anderen Weg gewählt. Ich würde gern etwas für die nächste Generation tun. Sport ist so wichtig, und es wäre wunderbar, wenn ich diese Vision mit einem neuen Sponsor teilen könnte.
Sie stehen, seit Sie 16 Jahre alt waren, in der Öffentlichkeit. Seither wurde viel über Sie geschrieben und gesagt. Wie sehr stören Sie sich noch an diesen Fremdeinschätzungen?
Früher dachte ich, dass es wichtig sei, was ich sage oder denke. Mittlerweile weiss ich, dass es das nicht ist. Ich finde es schön, dass ich mit dem Skisport Emotionen bei den Menschen wecken kann und dass die Zuschauer eine Leidenschaft entwickeln. Wenn ich die Bilder von den Sports Awards sehe, habe ich sofort Lust, Rennen zu fahren. Aber mehr als das sind wir nicht.
Ist das jetzt nicht etwas untertrieben?
Wenn du jung bist und plötzlich 20 Kameras auf dich gerichtet sind, fühlt es sich an, als seist du der Mittelpunkt der Erde. Aber wenn ich heute, mit der Erfahrung, die ich jetzt habe, zurückdenke an den Rummel in den Anfangszeiten in St. Moritz, muss ich sagen: «Hinter den 20 Kameras standen 20 Leute.» Aber auf der Welt gibt es über acht Milliarden Menschen. Wie viele Menschen waren an diesem Tag in St. Moritz und sind einfach selbst Ski gefahren und haben sich nicht für mich interessiert? Und da reden wir nur von St. Moritz, nicht vom Kanton Graubünden, von der Schweiz oder der Welt. Wenn man das so sieht, kann man lockerer mit dem Thema umgehen.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf Ihren Startverzicht in Sölden zu sprechen kommen. Sie sagten danach, Sie wollen nicht riskieren, dass eine Verletzung Ihre Karriere beendet. Verändert sich die Sicht auf das Risiko des Skisports im Verlauf einer Karriere?
Ich würde eher sagen, dass man das Risiko viel besser einschätzen kann. Zu Beginn der Karriere muss man an seine Grenzen stossen, um zu erkennen, wo diese sind. Darin sehe ich heute ein Problem: Wenn man die Jugendlichen zu früh bremst, wie sollen sie denn erfahren, was möglich ist? Es ist nun einmal so: Im Spitzensport muss man immer etwas mehr können als die anderen, um zu gewinnen. Wenn man die Grenzen überschreitet, lernt man als junge Athletin davon.
Und heute?
Ich profitiere von all diesen Erfahrungen. Heute gibt es Tage, an denen ich sage: «Weisst du was? Heute lasse ich es sein.» Wenn man aber schon mit 18 anfängt, so zu denken, wird es schnell zu einer Ausrede. Und dann macht man es überhaupt nicht mehr. Heute geht es um die Qualität meines Trainings, früher um die tägliche Quantität. Ich kenne die Pisten und weiss, was es wo braucht, um schnell zu sein. Mit 18 Jahren hatte ich diese Erfahrung noch nicht. Wenn man dann bereits beginnt, hier und dort zu bremsen, wird es schwierig, irgendwann schnell zu sein.
Nur wer die Grenzen kennt, kann ihnen nahekommen?
Wenn man jung ist, muss man eigentlich immer versuchen, die maximale Leistung zu bringen, egal ob man krank oder topfit ist. So lernt man, dass gute Resultate auch möglich sind, wenn nicht alles perfekt ist. Meine erste WM-Medaille gewann ich 2009, obwohl ich die Grippe hatte. Hätte ich damals auf einen Start verzichtet, wäre ich vielleicht nie mehr ein Rennen gefahren, wenn ich mich nicht 100 Prozent fit fühle. Das kann man sich im Spitzensport nicht erlauben.
Weit weg von dem was von Influencern kommt die uns täglich auf den Geist gehen. 😉
Hut ab davor.