Trainerlegende Karl Freshner sagt, Marco Odermatt helfe durch seinen Umgang mit Teamkollegen der gesamten Schweizer Skimannschaft enorm. Höchste Zeit also, dass wir uns mit dem besten Skifahrer der Welt über das Thema Freundschaften unterhalten. Und darüber, wie er persönlich mit dem Sturzrisiko umgeht.
Adelboden und Wengen stehen bevor. Bedeutet das mehr Vorfreude oder mehr Druck?
Marco Odermatt: Bei mir überwiegt ganz klar die Vorfreude. Ich fühle vor den Heimrennen keinen grossen Druck und auch keinen Stress mehr, schliesslich habe ich an beiden Orten gewonnen. Die Heimauftritte bleiben aber gemeinsam mit Kitzbühel die Rennen, auf die ich mich am meisten freue.
Hat sich die Einstellung zu diesen Rennen bei Ihnen in den letzten Jahren verändert, Sie haben wie erwähnt überall schon gewonnen?
Viel verändert hat sich dadurch nicht. Klar war früher mein grosses Ziel, in Adelboden und in Wengen eines Tages zu gewinnen. Das habe ich erreicht, dadurch reise ich sicher lockerer und mit weniger Anspannung ins Berner Oberland. Aber punkto Priorität bleiben es trotz dieser Siege für mich die wichtigsten Rennen.
Wird es nach Adelboden wieder eine Heimfahrt mit dem Fanbus geben?
(Lacht.) Das weiss ich noch nicht. Ich glaube eher nicht. Irgendwann einmal habe ich wohl auch das gesehen.
In Adelboden gab es vor einigen Jahren, in Wengen im letzten Winter, schwere Stürze. Nun auch wieder in Bormio. Die Erklärungen variieren von zu schneller Kurssetzung über ein zu anstrengendes Programm bis hin zur Streckenpräparation. Müsste man in dieser Diskussion nicht auch über die immer aggressivere Materialabstimmung der Fahrer sprechen?
Jein. Es gibt leider stets verschiedene Gründe, die für Unfälle verantwortlich sind. Oft ist es ein Mix aus Faktoren oder auch Zufällen. Wenn man Erklärungen suchen will, dann kann man im vergangenen Jahr in Wengen sicherlich das vollgepackte Programm anführen. Auf der anderen Seite beruhten die Stürze letztlich auf Fahrfehlern. Und Bormio gehört nun mal zu den schwierigsten Strecken, und es ist leider so, dass dort jedes Jahr Stürze passieren. Es mag keine Fehler leiden. Heuer war es einfach noch ein wenig extremer – unter anderem, weil die Pistenpräparation etwas anders als üblich, sprich unregelmässiger war. Und klar, auch das Material entwickelt sich, macht unseren Sport immer dynamischer.
Sehen Sie Lösungsansätze, wie man Ihren Sport für die Fahrer sicherer machen könnte?
Nein, wirklich schlaue Lösungen habe auch ich nicht. Mit dem Airbag hat man sicherlich einen wichtigen Schritt gemacht. Aber auch er schützt nur einen Teil des Körpers. Die Knie und der Kopf bleiben latente Gefahrenzonen. Ich frage mich, ob die Technologie nicht auch einen Airbag ermöglichen könnte, welcher den Kopf schützt.
Was machen Sie konkret, um möglichst gesund durch die Karriere zu kommen?
Die körperliche Kondition ist der grösste Faktor, den ich persönlich beeinflussen kann. Je fitter man ist, je vielseitiger man trainiert ist und je präziser man jeden Muskel ansteuern kann, umso besser kann man auf kritische Situationen reagieren. Vielleicht war es letztlich mehr als Zufall, dass ich bei meinem Verschneider in der Abfahrt von Bormio nicht gestürzt bin. Dazu kommt der mentale Aspekt, um im richtigen Moment das Richtige zu tun.
Zum Beispiel im richtigen Moment etwas Risiko rausnehmen?
Ja, kann sein. Das habe ich schon so gemacht. Andererseits bin ich auch schon über dem Limit gefahren. Grundsätzlich versucht man, als Rennfahrer im Wettkampf stets Vollgas zu geben.
Bormio stand noch wegen eines anderen Themas im Fokus. In gut einem Jahr finden dort die olympischen Männerrennen statt. War Olympia bei Ihnen in Bormio bereits präsent?
Abgesehen von den Plakaten im Ort sind die Olympischen Spiele in meiner Wahrnehmung noch sehr weit weg.
Aber ich nehme an, die Vorfreude auf diesen Anlass wird grösser sein als bei der letzten Austragung in China?
Das kann ich so nicht unterschreiben! Ich habe das Gefühl, es gibt in Bezug auf die Skirennen der Männer erneut seltsame Olympische Spiele. Ausser den besagten Plakaten hat der Anlass in Bormio ja entgegen vielen Ankündigungen wenig bis nichts ausgelöst. Bis auf eine Ausnahme wurde bislang keines der in die Jahre gekommenen Hotels erneuert. Der Ort wirkt wenig herausgeputzt oder gar erneuert. Nein, investiert wurde hier nicht wirklich etwas. Und es kommt noch ein weiterer Aspekt dazu.
Was sprechen Sie an?
Für uns Athleten ist Bormio enorm abgelegen. Man fährt zwei Stunden bis zur Medal Ceremony nach Mailand und noch beträchtlich länger bis in den Olympia-Hauptort Cortina. Wir werden während der Spiele keinen einzigen Athleten aus einer anderen Sportart treffen. Ein richtiges olympisches Feeling wie in China wird da kaum aufkommen.
Olympische Winterspiele sind auch in der Schweiz ein Thema. Was halten Sie von dieser Idee?
Ich stehe diesem Projekt positiv gegenüber. In der Schweiz wäre trotz verschiedener Austragungsorte alles näher beisammen, als es in Italien der Fall sein wird. Das Konzept der Schweizer Spiele ist auch mit Blick auf die vergangenen drei Austragungen in Sotschi, Pyeongchang und Peking sicherlich sinnvoll. Es braucht wieder mehr Bezug zum klassischen Wintersport. Denn es bleibt ein faszinierender Anlass, was auch das Beispiel der Sommerspiele in Paris gezeigt hat. Winterspiele sind aber gleichzeitig immer schwieriger zu realisieren.
Bei den letzten Anläufen sagte die Bevölkerung jeweils Nein. Wie kann man die Schweizerinnen und Schweizer von diesem Mega-Anlass überzeugen? Mit Personen wie Ihnen, sagen viele!
Ja, die Leistungen von Sportlerinnen und Sportlern tragen zweifellos dazu bei, Begeisterung zu entfachen. Sicherlich auch durch eine sinnvolle und glaubwürdige Planung. Und betonen sollte man auch den grossen Werbeaspekt, den man als Ausrichter der Olympischen Spiele hat.
Werden Sie sich persönlich für die Idee von Winterspielen in der Schweiz engagieren?
Ich werde diese Winterspiele sicher nicht mehr als Athlet erleben. Ich kann mir aber gut vorstellen, mich für die Winterspiele in der Schweiz zu engagieren und am Anlass auch eine Rolle zu übernehmen. Aber es ist alles noch sehr weit entfernt.
Sie sind im Team sehr beliebt, gelten als geselliger Typ. Was macht für Sie eine gute Freundschaft aus?
Gegenseitiges Vertrauen, ein offenes Ohr haben und sich gemeinsam mit dieser Person wohlfühlen. Niemand ist gerne für längere Zeit allein. Menschen um mich zu haben, die mir guttun, mit denen ich relaxen und es lustig haben kann, ist ein Privileg.
Ist es für Sie einfacher, innerhalb oder ausserhalb des Skisports Freunde zu finden?
Schon innerhalb. Die allermeisten meiner Kollegen haben etwas mit dem Skisport zu tun. Meine engsten Freunde habe ich über den Sport oder die Sportmittelschule kennengelernt.
Sie betreiben einen ausgeprägten Einzelsport. Jeder potenzielle Freund ist gleichzeitig auch sportlicher Rivale. Wie muss man das handeln?
Das ist sicherlich ein Aspekt, der eine Freundschaft früher oder später auf die Probe stellen kann. Es ist bekannt, dass ich mich auch sehr freue, wenn andere Schweizer Rennfahrer starke Leistungen zeigen. Wenn man die klare Nummer eins ist, macht es das natürlich viel einfacher. Ist man hingegen selbst die Nummer fünf, und gibt es für die WM nur vier Startplätze, dann ist es die ungleich grössere Herausforderung, sich über gute Resultate der anderen zu freuen. Solche Situationen begleiten mich nicht. Das macht es für mich leichter.
Wie wichtig ist es, auch Freunde zu haben, die Sie mit einer anderen Welt als jener des Spitzensports verknüpfen?
Ein durchaus wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, den Fokus zu wechseln oder Ereignisse aus dem Leben als Skifahrer zu relativieren. Aber umgekehrt schweisst das Teilen der gleichen Leidenschaft zusammen.
Wegen Ihres dicht gefüllten Terminkalenders sind gerade Freundschaften ausserhalb des Weltcups schwierig zu pflegen. Eine Herausforderung?
Nein, ich sehe das nicht als Herausforderung. Ich nehme mir abseits der Pisten bewusst und gerne viel Zeit für meine Kollegen. Wenn ich andererseits dann drei Wochen fürs Skifahren in Übersee unterwegs bin und in dieser Zeit keinen Kontakt mit zu Hause habe, dann ist das für alle Beteiligten ebenfalls okay. Wir treffen uns auch oft spontan und haben nicht das Gefühl, wir müssten unsere Freundschaften weiss nicht wie planen.
Haben Sie auch schon Freundschaften beendet, beispielsweise weil ein Kollege Ihr Vertrauen verspielt hat?
Nein, ich habe noch nie eine Freundschaft beendet.
Sie sind also tatsächlich der treuherzige Typ!
Das kann man so sehen. Ich habe seit vielen Jahren den gleichen Kollegenkreis. Ich bin auch nicht bewusst auf der Suche nach neuen Freunden. Es ist kein Umfeld, das sich ständig verändert.
Was wäre für Sie denn ein Vertrauensbruch?
Keine Ahnung. Das würde ich sehr situativ entscheiden. Aber wie gesagt: Diese Frage hat sich mir noch nie gestellt. (aargauerzeitung.ch)