Grichting hat 20 Jahre nach der Skandal-Barrage immer noch Schmerzen beim Pinkeln
Es ist der grösste Skandal in der Geschichte der Schweizer Fussball Nationalmannschaft. 16. November 2005, WM-Barrage-Rückspiel, Türkei-Schweiz. Die Nati qualifiziert sich in extremis und trotz 2:4-Niederlage für die WM.
Was danach geschieht, geht als «Schande von Istanbul» in die Annalen ein. Die Spieler und Trainer Köbi Kuhn rennen in die Garderobe. In der Hoffnung, Schutz zu finden. Das Gegenteil passiert. Es kommt zu Prügeleien. Panik bricht aus.
Das grösste Opfer auf Schweizer Seite ist Stéphane Grichting. Der Verteidiger erhält einen Tritt in den Unterleib. Er erleidet einen Harnröhrenriss, verliert die Kontrolle über seine Blase. Blut überall. Grichting muss ins Spital, wird sofort operiert. Auch Jahre danach leidet er an den Folgen.
Am Sonntag jährt sich die «Schande von Istanbul» zum 20. Mal. Grichting arbeitet mittlerweile als Konditionstrainer. An diesem Morgen Anfang November steht er mit Ski-Shootingstar Alexis Monney im Kraftraum. Nach der Trainingseinheit setzen wir uns mit Grichting ins Büro. Der 46-Jährige beginnt zu erzählen.
Wie denken Sie an diese Tage in der Türkei im November 2005 zurück?
Stéphane Grichting: Mir war immer bewusst, dass ein Fussballer Risiken ausgesetzt ist. Fussball verursacht Schmerzen, man kann sich ein Bein brechen, es kann vieles passieren. Aber was in der Türkei passiert ist, war für mich schwierig zu akzeptieren. Körperlich so viele Schmerzen zu erleiden, ohne eine Sekunde gespielt zu haben. Und danach nicht unterstützt worden zu sein, weder vom Schweizer Fussballverband noch von der FIFA.
Können Sie das präzisieren?
Wenn es darum ging, Strafen zu fordern, oder später gegen die Sperre von Beni Huggel zu rekurrieren, waren alle sofort zur Stelle. Aber für die Opfer? Niemand. Ich fühlte mich alleine gelassen.
Vom Schweizerischen Fussballverband und von der FIFA?
Ja. Keine Unterstützung. Von niemandem. Es war klar, das Opfer ist «nur» Stéphane Grichting. Es ist kein Alex Frei, kein Beni Huggel, kein sonstiger Star. Nun ja, es ändert sich nichts mehr.
Aber Sie sind enttäuscht?
Natürlich. Es passierte wirklich wenig. Ein paar Strafen. Rekurs. Thema erledigt. Die ganze Erfahrung war schrecklich. Was mich auch im Rückblick ohnmächtig macht, ist das Gefühl, dass alles noch viel schlimmer hätte enden können. Vom Moment, als wir den türkischen Boden betraten, bis wir wieder abflogen, war die Sicherheit für uns nie gewährleistet. Wenn uns jemand mit einem Messer nach dem Leben getrachtet hätte – niemand hätte es verhindern können.
Konnten Sie die Gedanken an Istanbul je verdrängen?
Sie kommen immer wieder zurück, das ist klar. Bis ein Jahr nach den Vorfällen bin ich manchmal in der Nacht hochgeschreckt und alles erschien mir wieder vor dem inneren Auge. Mit der Zeit klappte das Verdrängen. Der Mensch ist schlau, was seine Erinnerungen betrifft. Alles Negative wird weggewischt, das Positive kommt in den Vordergrund. Für mich ist meine Fussball-Karriere nicht geprägt von Istanbul. Ich durfte so viele schöne Dinge erleben.
Aber ganz vergessen …
… nein, das ist schwierig. Mein grosses Glück war, dass ich drei Wochen nach dem Harnröhrenriss wieder mit Fussballspielen beginnen konnte. Da hatte ich meinen Fokus wieder – die Spiele mit Auxerre. Und wenn wir von Auxerre reden: der Klub war jederzeit für mich da, das ist der grosse, wichtige Unterschied zur Fifa und dem SFV. Sie sind mich vom Flughafen abholen gekommen, sie haben mich direkt ins Spital in Auxerre gefahren. Und auch danach hatte ich stets jemanden, der sich um mich kümmerte.
Haben Sie heute, fast 20 Jahre später, immer noch Schmerzen?
Ja, ich habe immer noch Nachwirkungen. Beispielsweise Harnweginfekte. Sobald es am Punkt, wo meine Harnröhre durchtrennt war, zu einer Reibung kommt, entzündet sie sich. Und ein Brennen beim Wasserlösen verspüre ich ebenfalls regelmässig. Ich habe mich daran gewöhnt. Auch hier gilt: das menschliche Gehirn passt sich an, es regelt Schmerzen.
Haben Sie die Türkei wieder einmal besucht?
Nein.
Aber würden Sie es tun?
Auf jeden Fall nicht in den nächsten 255 Jahren (lacht). Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiss, dass ich jederzeit in die Türkei reisen könnte und mir nichts passieren würde. Es ist dasselbe, wie wenn ich nach Marokko, Tunesien oder Paris gehen würde. Was damals passiert ist, wurde von einer Minderheit ausgelöst. Trotzdem muss es nicht sein, ich muss meine Gedanken nicht wieder auffrischen. Zwischen 2006 und 2015 habe ich tatsächlich bei jeder Europacup-Auslosung mit Auxerre durchgeatmet, dass der Gegner nicht aus der Türkei kommt.
Sie haben gesagt, Ihre Karriere sei nicht geprägt von den Ereignissen in Istanbul. Erzählen Sie uns von den schönen Momenten!
Wie viel Zeit haben Sie? (lacht)
So viel Sie wollen!
Ich hatte eine erfolgreiche Karriere. Die schon ganz früh geprägt wurde. 1996/97 gewann ich als 18-Jähriger in meiner ersten Saison mit Sion, meinem Herzensverein, gleich das Double. Das ist nicht wie wenn der FCB oder YB mit fünf Mal höherem Budget als der Rest der Liga abräumt. Wann wird Sion das nächste Mal Meister? Kompliziert …
2002 wechselten Sie nach Auxerre in die Ligue 1.
Auxerre ist nicht Real Madrid, das ist mir klar. Trotzdem empfinde ich es als grosse Leistung, als Schweizer in der Ligue 1 über zehn Jahre Stammspieler zu sein. Und sich acht Mal für den Europacup zu qualifizieren. Um das Ausland zu erkunden, war Auxerre für mich perfekt. Zum Abschluss folgten drei Jahre mit GC, wo wir zumindest noch einen Cupsieg holten – und den FCB zwei Jahre im Titelrennen forderten.
Ihr Abschied aus der Nationalmannschaft verlief nicht geräuschlos. Im Juni 2011 verliessen Sie das Team direkt im Anschluss an ein Spiel in England, weil Ottmar Hitzfeld Sie auf die Tribüne setzte.
So war ich. Direkt und konsequent. Wenn ich nach sieben Nati-Jahren und immer noch als Stammspieler in der Ligue 1 auf die Tribüne muss, und andere, die nicht spielen in ihren Klubs, den Vorzug erhalten, dann weiss ich: es ist Zeit zu gehen. Ich verabschiedete mich noch in der Garderobe von allen – adé merci, tschüss!
Haben Sie später mit Hitzfeld einmal darüber gesprochen?
Nein. Aber nochmals: Ich beklage mich nicht. Ich habe eine schöne Nati-Zeit hinter mir. Zwei Weltmeisterschaften und eine EM. Mit zwei Highlights, die herausstechen. Dank meines einzigen Nati-Tores gegen Griechenland schafften wir es an die WM 2010. Und dort in Südafrika der Sieg gegen Spanien, die besten Spieler von Real Madrid und Barcelona, das war einmalig – auch wenn es danach leider nicht für den Achtelfinal reichte.
Hat Ihnen der Fussball gefehlt nach der Karriere?
Am Anfang ein bisschen. Die Freunde. Die Atmosphäre in den Stadien. Die Reisen. Natürlich die Garderobe. Gleichzeitig war ich sehr glücklich, nicht mehr an jedem Wochenende und vielen Abenden unterwegs zu sein. Und nach zwei Jahren merkte ich plötzlich: Wenn es regnet und kalt ist, bin ich froh, nicht mehr auf dem Platz stehen zu müssen. Was den Fussballkonsum betrifft, da schaue ich nur noch die wirklich grossen Spiele. Ein Champions-League-Spiel Paris St.Germain gegen Bayern? Da kann es gut sein, dass ich nach 20 Minuten ausschalte.
Sie mochten die Glamour-Seite des Fussballs nie. Einen kleinen Luxus aber gönnten Sie sich: einen Jaguar. Warum eigentlich?
Es ergab sich die Gelegenheit in Frankreich, eine kleine Freude, die ich mir gönnte. Wobei der Jaguar 60'000 Euro kostete, nicht 2,5 Millionen (lacht). Ausgang, Frauen, hier und da ein vom Status profitieren – nein, die Glitzerwelt des Fussballs war nichts für mich. Der Fussball ist aber auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ich habe ein Beispiel.
Gerne.
Als ich zu GC kam mit 500 Spielen in der Ligue 1 und der Super League auf dem Buckel, da gab es 17-Jährige noch ohne jede Einsatzminute, die kamen in die Garderobe, klatschten mit mir ab, «wie geht’s, Brate?», drehten Musik auf, es ist 10 Uhr, aber es braucht Musik, um aufzuwachen. Die neue Generation ist kompliziert. Aber überall in der Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass Erziehung immer weniger ernst genommen wird. Man gibt sein Kind zum Fussball oder woanders hin mit der Erwartung, dass es dann erzogen wird.
Sie selbst haben drei Kinder: Worauf achten Sie bei der Erziehung? Wie geben Sie die Werte weiter?
Es ist nicht immer einfach. Sie sind auch immer mit der Realität ihrer Freunde konfrontiert. Eines Tages kam meine Tochter, 12 oder 13 damals, weinend nach Hause. Was ist passiert? «Es ist einfach ungerecht, ich bin die Einzige in meiner Klasse ohne Handy!» Brauchst du denn eines? «Nein, aber ich bin die Einzige.»
Und was haben Sie gemacht?
Sollen wir sie ausschliessen von ihrer Klasse? Dann sitzt sie alleine in der Ecke? Das geht nicht, völlig klar. Also haben wir ihr schliesslich auch eines gekauft. Es ist mir völlig bewusst: man kann Werte haben und pflegen – und sehr schnell völlig realitätsfremd werden. Daneben gibt es Dinge, die unverhandelbar sind wie Respekt, Toleranz, Multikulturalität.
Nun ist aus dem Fussballer der Konditionstrainer Stéphane Grichting geworden. Wie ist es dazu gekommen?
Nach meinem Rücktritt hatte ich einige Angebote, um im Fussball zu bleiben. Ich wollte aber nicht Trainer werden. 19 Jahre in diesem Business sind genug. Trotzdem wollte ich im Sport bleiben. Ich wusste, was ich nicht wollte: Versicherungen, Banken, im Büro sitzen. Dann erhielt ich einen Anruf von Patrick Flaction. Er gründete 2016 die Firma «Elitment» und suchte jemanden, um ihn zu unterstützen. In 20 Minuten wurden wir uns einig. Et voilà: Seit 2018 arbeite ich als Konditionstrainer.
Wie viele Athleten betreuen Sie?
Es begann mit drei, vier, fünf. Allesamt im Juniorenbereich. Darunter war Alexis Monney. Mittlerweile weiss ich: das ist mein Metier, jetzt sind es etwa 20 Sportlerinnen und Sportler, die ich betreue.
Wie viel können Sie weitergeben dank Ihrer Erfahrungen als Fussballer?
Schon einiges. Ich habe es erlebt, wenn es an einem Tag hiess: «Wow, Grichting, Weltklasse!» Und eine Woche später: «Grichting, der ist nix!» Diese Erfahrungen zu teilen, kann helfen.
Inwiefern unterscheidet sich die Skiwelt von der Fussballwelt?
Der Hauptunterschied ist: Im Fussball ist früh sehr viel Geld drin. Wenn du heute als 16-, oder 17-Jähriger beim FC Sion spielst und gut bist, verdienst du 4000 bis 5000 Franken im Monat. Wenn du bei Swiss-Ski ins C-Kader kommst, dann zahlst du 30'000 Franken im Jahr! Du musst dir genau überlegen: Wie kann ich alles bezahlen? Ein Konditionstrainer kostet. Und ist in frühen Jahren ein Investment in die Zukunft.
Wenn Sie Skirennen schauen vor dem Fernseher, wie muss man sich das vorstellen?
Ich bin immer ein wenig angespannt. Es geht für mich jeweils nicht nur um eine Zeit oder einen Rang. Für mich ist es immer ein Durchschnaufen, wenn mein Athlet gesund im Ziel ist. Lieber Zehnter und dafür nicht halb zerbrochen im Netz. Denn das ist mein Job: Verletzungen vermeiden.
Wie nehmen Sie Alexis Monney wahr? Kann er einem achten Rang noch etwas Positives abgewinnen? Schliesslich gewann er auf der Olympiastrecke von Bormio erstmals, wurde Zweiter in Kitzbühel, gewann WM-Bronze …
Absolut. Er ist ein sehr intelligenter Fahrer. Er sagt mir manchmal: «Alles gut, ich weiss, wo ich Zeit verloren habe, aber mit mehr Risiko wäre es sehr gefährlich geworden, ich bin super happy.» Wenn ich ihn mit Franjo von Allmen vergleiche … Ich hoffe sehr, es passiert niemandem etwas. Aber wer die beiden und ihre Stile betrachtet, sieht: der eine ist mehr gefährdet.
