Plötzlich steht er da, im Ziel des Vuelta-Zeitfahrens in Valladolid und klopft dem Leader Sepp Kuss auf die Schulter: die spanische Radsportlegende Miguel Indurain. Der 59-jährige Olympiasieger und Weltmeister hat gute Erinnerungen an Valladolid. 1985 wurde er im Alter von 20 Jahren Zweiter beim Auftaktzeitfahren der Spanienrundfahrt. Am nächsten Tag konnte er sich das Leadertrikot überstreifen. Bis vor kurzem hielt er den Rekord als jüngster Fahrer, dem dies gelang.
Den Gesamtsieg an der Landesrundfahrt in seiner Heimat holte er nie, doch er gewann ab 1991 fünf Mal in Folge die Tour de France. Diesen Rekord überbot nur der Amerikaner Lance Armstrong, der später des Dopings überführt wurde. Indurain wurde nie positiv auf verbotene Leistungsverstärker getestet. Da er in einer Epoche fuhr, die heute als dopingverseucht gilt, richtet sich der Verdacht aber auch gegen ihn. Spricht man ihn darauf an, bleibt er wortkarg. Er ist aber auch sonst kein Mann ausschweifender Voten.
Als wir ihn am Rande des Ultracycling-Rennens Tortour am Start in Küsnacht treffen, fällt er trotz seines Heldenstatus im Radsport kaum auf. Er spricht leise auf Spanisch oder Französisch und lässt sich geduldig fotografieren, obwohl er nur ein paar Stunden später eine Strecke von 300 Kilometern unter die Felgen nehmen wird.
Miguel Indurain, Sie sollen während Ihrer Zeit als Spitzensportler einen Ruhepuls von 28 Schlägen pro Minute gehabt haben. Das ist unglaublich. Stimmt diese Angabe?
Miguel Indurain: Ja, das stimmt. Ich hatte zeitweise einen Ruhepuls von 28. Aber das war dann schon Rekord. Er bewegte sich aber längere Zeit um 30 oder 32 Schläge pro Minute. Ich bin schon mit einem tiefen Puls geboren, wir haben früher aber auch darauf trainiert. Lange Trainingseinheiten liessen meinen Herzmuskel anwachsen. Ich habe darum ein grosses Herz (schmunzelt).
Sie haben Ihre Karriere als Radprofi 1996 beendet. Wie steht es heute, im Alter von 59 Jahren, um Ihren Ruhepuls?
Ich weiss es nicht genau. Zum Glück muss ich das nicht mehr messen. Ich schätze mal, er liegt bei 45 Schlägen pro Minute.
Fahren Sie immer noch täglich mit dem Rennvelo?
Nein, nur noch, wenn ich Zeit habe. Und im Winter fahre ich gar nicht mehr. Ich habe dafür mit dem Laufen begonnen. Der Laufsport gefällt mir.
Verfolgen Sie den Radrennsport noch? Wie viele Stunden Tour de France haben Sie in diesem Jahr geschaut?
Vor der Pandemie habe ich mir viele Rennen vor Ort angesehen. Aber als alle Masken trugen und man sich nicht mehr richtig begrüssen durfte, machte es keinen Spass mehr. So ist mir der Sport etwas abhanden gekommen. Jetzt gehe ich aber wieder öfter hin und schaue mir viele Rennen im Fernsehen an. Ich verpasse eigentlich kaum je eine wichtige Etappe.
Was hat sich verändert im Vergleich zu den Zeiten, als Sie den Sport dominierten?
Der Sport ist explosiver geworden. Kurze und intensive Etappen sorgen für Spektakel. Die Zuschauer wollen das so. Vor allem das Publikum vor den Fernsehern will sich nicht mehr stundenlange Fahrten durch die Landschaft anschauen. Es ist wie in anderen Sportarten oder in anderen Bereichen des Lebens. Wir wollen möglichst kurze und schnelle Nachrichten auf unseren Smartphones lesen und nicht mehr ewig in der Zeitung blättern.
Könnten Sie mit Ihrem Körperbau von damals (1,86 Meter/76 Kilogramm) heute noch eine Grand Tour gewinnen?
Es ist sicher schwieriger geworden, weil es weniger Zeitfahr-Etappen gibt. Ich habe die Rundfahrten dank der langen Zeitfahren gewonnen.
Warum gibt es heute nur noch wenige Zeitfahren?
Zeitfahren bringen dem TV weniger gute Einschaltquoten als Bergetappen. Darum verzichten die Veranstalter wohl darauf. Ich finde, es sollte wieder mehr Zeitfahren geben. Es ist eine anspruchsvolle Disziplin: das Einteilen, der Rhythmus. Das sind wichtige Fähigkeiten, die ein Rennfahrer mitbringen muss.
Fahrer von Ihrem Typus sind heute also benachteiligt?
Ja, es ist ein Nachteil für Typen wie mich oder Tom Dumoulin. Je weniger Zeitfahrkilometer, desto schlimmer. Und dann all diese mühsamen Anstiege! Leute mit Gewicht wie ich haben es heute viel schwieriger.
Was halten Sie vom aktuellen Gewinner der Tour de France, Jonas Vingegaard?
Ein wunderbarer Fahrer. Er kann das Rennen lesen, kann über sich hinauswachsen. Er kennt das Spiel und schuftet hart.
Heute arbeiten die Fahrer viel mit Zahlen. Sie messen, wie viel Watt sie auf die Pedale bringen, wie hoch ihr Puls ist und wägen ihr Essen. Was halten Sie davon?
Man muss mit der Zeit gehen. Wir machten auch alles anders als unsere Vorgänger und so ist es heute wieder. Schon zu meiner Zeit tauchten die Pulsmesser auf und nun sehen wir mit den Wattmessern die Fortsetzung davon. Ich finde das in Ordnung. Man sollte sich nicht dagegen sperren.
Wie streng waren die Menüpläne damals während einer dreiwöchigen Rundfahrt? Lag da auch mal ein Bier drin?
Ich trank nach jeder Etappe am Abend ein Glas Rotwein. Wenn die Etappe hart war auch mal zwei.
Sie haben sich Zweikämpfe mit Schweizer Fahrern wie Alex Zülle geliefert. Erzählen Sie mal, wie das war.
Ja, mit ihm gab es einige harte Zweikämpfe. Ich erinnere mich an die Tour de France von 1995. Er griff an und ging früh in die Flucht, nachdem ihm am Vortag ein Zeitfahren missraten war. Er gewann dann auch in La Plagne die Etappe. Zülle war ein sehr starker Fahrer, aber er stürzte ab und zu und war etwas nervös. Das war sein Problem.
Und mit Tony Rominger fuhren Sie auch um die Wette!
Ja, mit Tony hatte ich noch mehr Zweikämpfe. Auch über das Ende unserer sportlichen Karrieren sind wir in Kontakt geblieben. Er lud mich an Radsport-Events in die Schweiz ein.
Fielen die Schweizer eigentlich auf? Waren Sie anders als sonstige Fahrer?
Es waren harte Rennfahrer. Mir fiel auf, dass sie heisse Temperaturen nicht so gut ertrugen. Aber bei Kälte oder Regen war immer mit ihnen zu rechnen.
Haben Sie das ausgenutzt und an heissen Tagen angegriffen?
Nein, ich attackierte sowieso nur selten. Ich war ein Ausdauerfahrer. Tag für Tag kämpfte ich mich ein wenig voran, ohne spektakuläre Attacken.
Man sagt, Sie seien ein grosszügiger Fahrer gewesen. Etappensiege verschenkten Sie und behielten nur den Gesamtsieg für sich.
Es war mehr Taktik als Grosszügigkeit. Mich interessierte nur Paris. Ich liess mich nie auf Sprints für ein paar Punkte oder für einen Etappensieg ein. Ich erinnere mich an Bernard Hinault. Er kämpfte um jede Wertung, wollte alles gewinnen. Als Tour-Leader stürzte er einmal und verletzte sich. Er hätte wegen eines dummen Sprints beinahe alles verloren. Das wollte ich nicht. Ich habe mir jeweils ein klares Ziel gesetzt: zum Beispiel den Gesamtsieg.
Kommen wir zu einem traurigen Kapitel. An der Tour de Suisse starb der Schweizer Rennfahrer Gino Mäder nach einem Sturz auf der Abfahrt vom Albulapass. Seither sind noch zwei weitere junge Fahrer verunglückt. Ist der Radsport zu gefährlich geworden?
Der Radsport war immer schon gefährlich. Nicht nur bei Rennen, auch im Strassenverkehr lauern überall Gefahren. Das Fahrrad ist ein heikles Sportgerät. Man muss sich immer hundertprozentig konzentrieren und es kann immer etwas passieren.
Heute fahren die Athletinnen und Athleten schneller bergab als zu Ihren Zeiten.
Es stimmt schon. Das Tempo wird immer schneller. Aber auch zu meinen Zeiten gab es tödliche Stürze. Ich erinnere mich an den Tod von Fabio Casartelli.
Er starb während einer Etappe der Tour de France im Jahr 1995. Sie gewannen die Tour am Ende in Paris. Wie gingen Sie damit um?
Ich sah, dass er gestürzt war, aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er gestorben war. Im Verlauf der Etappe hörten wir dann von seinem Tod. Man weiss ja, dass es dieses Risiko gibt, aber es hat uns trotzdem getroffen. Es ist ein Elend, wenn es passiert, aber leider kann man so etwas in unserem Sport nie ganz ausschliessen. Das Einzige, was wir tun können, ist immer vorsichtig sein.
Früher wurde auf Abfahrten nicht angegriffen, oder?
Doch, doch! Und wie attackiert wurde. Überall wurde angegriffen – auch auf den Abfahrten. Und wir fuhren damals ohne Helm.
Heute ist das kaum mehr vorstellbar.
Mit oder ohne Helm macht keinen grossen Unterschied.
Ziehen Sie heute immer noch keinen Helm an, wenn Sie Ausfahrten machen?
Doch, doch. Heute gilt an vielen Orten in Spanien eine Helmpflicht. Ein Helm schützt bei kleineren Stürzen sicher gut. Aber wenn du auf der Abfahrt vom Tourmalet von der Strasse abkommst, nützt dir ein Helm auch nichts mehr. Man muss vorsichtig sein und wissen, dass man nicht ständig Risiken eingehen kann. Man darf sich wegen eines Helmes nicht in falscher Sicherheit wähnen.
Sprechen wir über Doping. Bjarne Riis verhinderte 1996, dass Sie Ihre sechste Tour de France gewannen. Später gab er zu, sich gedopt zu haben. Wie denken Sie darüber?
Er weiss, was er tat während seiner Sportkarriere. Ich kämpfte für den Sieg und schaffte es nicht. Und so ist es nun mal. Ich war ja nicht der Einzige, dem der Sieg genommen wurde.
Heute gilt die Epoche, in der Sie Ihre Siege errungen haben, als Epoche des Dopings. Wie erlebten Sie das?
Es war eine andere Zeit mit anderen Wertvorstellungen. Ich hoffe, dass es heute besser ist als damals.
Wenn ich an ihn denk, sind das weisse Cap und das gelbe Trikot immer das erste, was mir in den Sinn kommt...
Ein Ausnahmetalent!