Glauben Sie an den Fussballgott oder eine höhere Macht, die für Gerechtigkeit im Fussball sorgt?
Marcel Reif: Ich neige nicht zu Esoterik. Aber klar: Irgendwann gleicht sich vieles aus. Nur, worauf wollen Sie hinaus?
Fussballromantiker freut es, dass die neureichen Manchester City und Paris-Saint-Germain die Champions League noch nie gewonnen haben.
Ach so. Also Romantiker? Wir hätten es gern, dass die Verhältnisse bei allen gleich sind und es auf der ganzen Welt einen fairen Wettbewerb gibt. Dann stellen wir aber fest: Nein, die anderen haben viel mehr. Und dann kippt das um in Schadenfreude, wenn es eben nicht funktioniert wie bei PSG und City. So nach dem Motto: Mit dem ganzen schönen Geld habt ihr es nicht hingekriegt, euch den Champions-League-Titel zu kaufen. Das hat auch etwas Tröstliches.
Aber wird’s irgendwann mal was mit dem Champions-League-Triumph für PSG und City?
PSG hat ein Modell, das nicht funktionieren kann. Sie sind die Harlem Globetrotters des Fussballs. Das ist eine Ansammlung von Superstars für Momente aber keine Mannschaft für einen grossen Wettbewerb.
Und Manchester City?
Ich glaube, die sind diese Saison reif für den Titel. Aber ich habe mich schon oft genug getäuscht.
Es gäbe Werkzeuge, um die Dekadenz der superreichen Klubs etwas einzuschränken. Stichwort Financial Fairplay.
Das war immer schon ein Papiertiger, weil man die Rechtsmittel von Anfang nicht verlässlich eingesetzt, sondern sich immer auf ein «ja, aber» verständigt hat. Entweder wird es das freie Spiel der Kräfte geben oder sie werden sich eine Selbstbeschränkung auferlegen. Aber nicht, damit beispielsweise Victoria Pilsen konkurrenzfähig wird zu Manchester City. Sondern, damit City und Liverpool, Paris, Bayern und Chelsea und Real und Barcelona sich auf eine gemeinsame Grenze einigen. Also das amerikanische Modell.
Also doch eine internationale Super League, wie sie angedacht war?
Allerspätestens in fünf Jahren wird sie ihren Betrieb aufnehmen.
Zurück zu PSG: Wenn ich mir die besten Spieler kaufen kann, sollte es mit dem Erfolg doch funktionieren.
Das funktioniert auf dem Schulplatz. Aber da ist das jugendliche Ego noch nicht annähernd so gross wie jenes von Neymar, Messi oder Mbappé. PSG in dieser Zusammensetzung ist nicht handlebar. Es würde einem Wunder gleichkommen, wenn diese Fürsten bereit wären, sich ausschliesslich in den Dienst der Sache zu stellen. In Paris sind die grössten Trainer gescheitert. Selbst Carlo Ancelotti, der wirklich alles kann, hat es nicht hingekriegt. PSG, das ist zu viel des Guten.
Bei Mbappé stand lange ein Wechsel zu Real Madrid zur Diskussion. Schliesslich blieb er doch und soll nun 600 Millionen für drei Jahre kassieren. Verständlich aus Ihrer Sicht?
Ich kenne den Vertrag nicht. Sehen wir es doch positiv. Emmanuel Macron soll sich für einen Verbleib von Mbappé in Frankreich eingesetzt haben. Oder der Spieler ist zum Schluss gekommen: Hier bin ich Gott, hier kann ich sein, wie ich will. Bei Real aber gibt’s noch einen Benzema, den werden sie nicht vom Hof jagen. Vielleicht hat er sich nicht getraut. Aber man hat ihm jeden möglichen Schmerz vergoldet und mit Brillanten besetzt. Und mit Mbappés Vertrag müssen nun Neymar und Messi leben. Ich glaube nicht, dass das funktioniert.
Überraschend fand ich, dass Erling Haaland zu City wechselt, weil er so überhaupt nicht zum Spielstil von Pep Guardiola passt.
Das passt auf keinen Fall. Doch jetzt zeigt Haaland, dass es doch passt. Erst befürchtete ich, Guardiola würde Haaland seine Spielidee aufzwingen wollen, wie er es immer und bei allen getan hat. Aus Manchester höre ich nun, dass Guardiola bereit sein soll, von seiner manischen Ballbesitz-Idee etwas Abstand zu nehmen und sich Haaland anzunähern.
Werden wir im Juni zur Erkenntnis gelangen, dass Haaland jenes Puzzlestück ist, das City bislang gefehlt hat? Genau. Wenn Guardiolas Art des Fussballs gegen defensiv starke Teams wie Real Madrid nicht zum Erfolg führt, war er bis anhin ratlos. Aber jetzt hat er mit Haaland eine Wucht.
Es hat schon fast etwas Tragisches, wie Guardiola mit Manchester City immer wieder scheitert.
Mein Mitleid mit Pep hält sich in Grenzen. Schliesslich durfte er über eine Milliarde für Spieler ausgeben. Ich halte ihn für den besten Ausbildner, aber nicht für einen grossen Trainer.
Warum?
Weil ihm die Empathie, wie sie Carlo Ancelotti hat, fehlt. Möglicherweise lernt selbst er noch dazu. Er, der uns immer das Gefühl vermittelte, er hätte das Spiel erfunden. Ich dachte jeweils: Dann nimm doch Abstand von deinem Wahn mit dem Ballbesitzfussball. Und geh nicht davon aus, dass der Einzige, der etwas von Fussball versteht, du bist. Möglicherweise machst du vielleicht auch was falsch. Wenn Guardiola zu uns auf den Planeten runtersteigt, bin ich bereit, auch mal wieder Mitleid mit ihm zu haben.
Barcelona hat unfassbar hohe Schulden, gibt trotzdem über 150 Millionen Euro für neue Spieler aus. Verstehen Sie das?
Wenn durch den Generationenwechsel im Team mehrere Lücken entstehen und gleichzeitig im Hintergrund abenteuerlich gewirtschaftet wird, bleiben nur zwei Optionen: Entweder man verabschiedet sich von den grossen Ambitionen oder man geht in die Offensive. Zweiteres tut Barcelona nun.
Und das finden Sie, richtig?
Barcelona ist kein ordinärer Klub. Klar, sie verkaufen jetzt alle Rechte, damit sie irgendwie zu Geld kommen. Aber sie haben wenigstens Rechte. Die Marke FC Barcelona hat einen Wert, der die Schulden bei weitem übersteigt. Und so können sie sich Lewandowski holen, der die Tore schiesst. Sportlicher Erfolg ist die beste Methode, Schulden abzubauen. Aber klar ist auch, dass Barcelona All-In gegangen ist.
Und nun hat Barcelona eine Mannschaft, der man sogar den Champions-League-Sieg zutrauen kann?
Das wird bis nächstes Jahr noch wachsen. Und ja, da kommen ein paar grosse Talente aus dem eigenen Nachwuchs, die sie nun auch endlich wieder entdecken, wie Gavi, Pedri und Ansu Fati. Zusammen mit Lewandowski, Dembélé und ein paar Älteren in der Abwehr ist das ein interessanter Mix.
Apropos ältere Spieler: Bei Real Madrid ist Casemiro weggebrochen. Was macht das mit dem Titelverteidiger?
Das ist Teil des nächsten Schritts. Sie werden irgendwann auch Modric, Kroos und Benzema ersetzen müssen. Eine solche Mannschaft umzubauen mit so unfassbar guten Jungs, die ihr Ego im Griff hatten, ist die Königsdisziplin. Aber, um einen nächsten Schritt zu machen, muss man sich auch mal trennen. Auch für den FC Bayern war es gut, dass Lewandowski gegangen ist.
Warum ist es gut, dass einer geht, der acht Jahre lang im Schnitt ein Tor pro Spiel erzielt?
Aber wenn er mal die Tore nicht gemacht hat, wurde es schwierig für Bayern. Ich sehe nun einen fröhlicheren, leichtfüssigeren und nicht so monokulturellen Fussball wie mit Lewandowski. Wenn Lewandowski mal nicht funktioniert hat, war es kaum möglich, einen Plan B zu finden. Jetzt haben die Bayern einen Plan A, B, C und D. Es gibt wieder Entfaltungsmöglichkeiten für Sané, für Musiala. Alle kriegen Platz. Und irgendwann ist eine Reise auch mal zu Ende. Dann muss entweder der Trainer gehen oder die Mannschaft muss neu erfunden werden.
Jürgen Klopp ist nun schon sieben Jahre in Liverpool, ein Phänomen?
Das widerspricht allen Gesetzen des Fussballs. Aber Guardiola macht’s genau gleich. Ich habe den Eindruck, dass die beiden schicksalhaft miteinander verbunden sind. Nach dem Motto: Wenn du verlängerst, verlängere ich auch.
Steile These. Ein extrovertierter Trainer wie Klopp nützt sich eher ab als der zurückhaltende Ancelotti. Nur: Was macht Klopp, dass es immer noch funktioniert?
Natürlich nutzt sich auch Klopp ab, deshalb wechselt er ja die Spieler aus. Sadio Mané zum Beispiel hätte er nie gehen lassen, wenn er erst drei Jahre in Liverpool wäre. Klopp hat begriffen, dass er die Mannschaft verändern muss. Sonst sind zu viele Spieler da, die sagen, ich kann es nicht mehr hören, was der Trainer sagt.
Zurück zu den Bayern: Jedes Jahr reden wir davon, dass sie nochmals ein Stück besser sind. Auch dieses Jahr, obwohl Lewandowski weg ist.
Obwohl? Nein: wegen Lewandowskis Abgang. Ausserdem lernt Trainer Julian Nagelsmann auch dazu. Und er hat jetzt viel mehr Möglichkeiten. Das spielerische Spektrum ist viel grösser. Ich will Lewandowski nicht schlechtreden. Man sieht ja, dass er auch in Barcelona seine Tore schiesst. Aber es ist ein Wechsel, der allen Parteien gut bekommt.
In der Bundesliga wissen wir ja schon vor dem ersten Spieltag, wer Meister wird. Langweilt der Monolog der Bayern auch Sie?
Oh ja. Das ist eine Katastrophe für die Liga. Deswegen wird die internationale Super League kommen. Es geht bei der Super League auch darum, die Ligen von Teams zu befreien, die dort nichts zu suchen haben, weil sie zu dominant sind.
Also würde der FC Bayern München nur noch in der Super League, nicht mehr in der Bundesliga antreten?
Nach meiner Ansicht Ja. Die nationalen Ligen werden wieder spannend und die Menschen weiter zu ihrem Klub gehen. Glauben Sie mir, die Einführung der Super League nach amerikanischem Modell wird keine Katastrophe sein. Viel schlimmer ist es doch, wenn wir schon vor dem Anpfiff wissen, wie ein Spiel ausgehen wird. Meine Söhne sind das beste Beispiel.
Was ist mit Ihren Söhnen?
Die gucken keine Bundesliga mehr, sondern nur noch amerikanischen Sport. Die finden das spannender. Wir älteren Europäer aber glauben, dass allein der Abstiegskampf spannend ist. Echt jetzt? Was ist so spannend an Relegationsspielen? Das ist doch wie bei einem Autounfall zuschauen. Das ist Voyeurismus pur.
Was Sie skizzieren, wäre eine gewaltige Revolution. Ist es seriös, wenn Bayern die erste Mannschaft Super League und die Zweite Bundesliga spielen lässt und die Liga trotzdem gewinnt?
Nein, die Ligen brauchen einen Befreiungsschlag. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Verfechter der Super League. Aber ich sehe, wie die Schere zwischen den europäischen Topklubs und einem Bundesliga-Mittelfeldklub jedes Jahr immer weiter aufgeht. Ich glaube auch, dass der FC Basel in der Super League mitspielen wird.
Da ist er schon.
Nicht in der Schweizer Super League.
Basel in einer internationalen Super League?
Ganz sicher. In Basel gibt es Pharmakonzerne, die sich das leisten können, aus Marketinggründen vielleicht sogar leisten müssen. Analog zu Katar mit PSG. Dann werden sie richtig Geld investieren. Nicht für Platz 2 in der Schweizer Super League, sondern um auf der internationalen Bühne eine richtig gute Figur abzugeben. In der Planung einer Super League spielt auch der Standort eine Rolle.
Dortmund hat grosse Tradition, viele Fans, ist aber in einer eher strukturschwächeren Region zu Hause. Also keine Super League in Dortmund?
Es gibt unterschiedliche Parameter. Im Fall des FC Basel wäre es eine Markengeschichte. Für Dortmund würde die Tradition, die Stimmung im Stadion, die Wucht des Klubs aber vor allem auch der deutsche Fernsehmarkt sprechen. Ein nicht zu unterschätzendes Argument, wenn man eine Liga auf dem Reissbrett entwirft. Ich habe die Super League doch nicht erfunden. Ich bin nur verzweifelt.
Weswegen?
Ich weiss, wer in Deutschland Meister wird. Ich weiss es in Frankreich. Ich weiss, dass in England entweder City oder Liverpool Meister wird. Ich weiss, dass in Spanien A (Red; Real Madrid) oder möglicherweise B (Red; Barcelona) Meister wird. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Weil sich sonst die jungen Menschen vom Fussball abwenden. Sport bedeutet: Ich weiss nicht, wie es ausgeht.
Zum Schluss noch eine Vermisstenmeldung betreffend Champions League: Cristiano Ronaldo.
Ein Drama. Unendlich traurig, dass ein Spieler mit dieser Klasse verramscht wird. Die charmanteste Idee war, zurück zu Sporting Lissabon. Die würden eine Statue hinstellen und das Stadion nach ihm benennen. Doch jetzt höre ich, dass sich der Trainer quer stellt. Verstehen Sie, wie traurig das ist? Ich würde Ronaldo so wünschen, nach Miami zu Beckham zu gehen. Nächstes Jahr kommt Messi noch dazu und sie machen Showfussball.
Kollateralschaden wären halt die (wenigen) echten Fans dieser Grossclubs.
Pro Super League!