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Valon Behrami und das Spiel des Lebens: «Wir fühlten uns unbesiegbar»

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Sein bestes Spiel in der Nationalmannschaft: Valon Behrami gegen Neymar an der WM in Russland.Bild: www.imago-images.de
Interview

Valon Behrami und das Spiel des Lebens: «Irgendwann fühlten wir uns unbesiegbar»

Valon Behrami war der Schweizer Held beim 1:1 gegen Brasilien an der WM 2018. Er spricht über seine Erinnerungen an dieses Spiel, sein Ende der Karriere und das neue Leben ohne Fussball. In Katar gibt es für die Schweiz kein Wiedersehen mit Neymar – der Superstar ist am Fuss verletzt.
26.11.2022, 10:0926.11.2022, 10:41
Etienne Wuillemin / ch media
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Wir treffen uns mit Ihnen, weil wir über ein Bild reden möchten.
Valon Behrami: Ich bin gespannt!

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Bild: EPA/KEYSTONE

WM 2018, Schweiz gegen Brasilien. Wir sehen Neymar, wie er am Boden liegt, sich krümmt vor Schmerzen – derweil Sie daneben stehen und süffisant lächeln. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie dieses Bild anschauen?
In meinen Gedanken spielt sich sofort die Geschichte dieses Spiels ab. Am Anfang dachte ich: «Versuche, ihn zu stören, Valon. Versuche, ihm den Ball abzunehmen.» Es gelingt. Mit jeder Aktion wächst mein Selbstvertrauen.

Und mit jeder Aktion wird Neymar frustrierter.
Genau. Dann kommt diese eine Szene. Neymar liegt am Boden. Hinter mir sehe ich Fabian Schär. Er lächelt. Ich lächle auch. In 90 Prozent der Fälle, in denen man als Fussballer einem Weltklasse-Team gegenübersteht, denkt man: «Was für ein Scheiss-Tag. Wir rennen nur dem Ball hinterher.» In diesem Spiel gegen Brasilien war alles anders. Wir hatten richtig Spass. Das sind die schönsten Momente für einen Spieler wie mich, der nie ein Tor schiesst und auch nie einen Assist gibt (lacht).

Neymar fehlt verletzt gegen die Schweiz
Brasiliens Superstar Neymar fällt wegen einer Knöchelverletzung mindestens für das Spiel gegen die Schweiz aus. Am Freitag äusserte sich Neymar erstmals: «Es ist einer der schwierigsten Momente meiner Karriere, wieder habe ich eine Verletzung, wieder während einer WM – die Geschichte ist fast schon langweilig.» Aller Voraussicht nach würde er frühestens im WM-Achtelfinal zurückkehren. Neymar sagt: Ich bin sicher, dass ich die Chance haben werde, zurückzukommen. Ich werde jedenfalls mein Bestes tun, um meinem Land, meinen Teamkollegen und mir selbst zu helfen.»

Wussten Sie während des Spiels: «Heute verlieren wir nicht!»?
So ist es. Dieses Gefühl entsteht irgendwann – und man fühlt sich unbesiegbar. Das Ganze passiert manchmal auch umgekehrt. Im WM-Achtelfinal gegen Schweden hatte ich von der ersten Minute an das Gefühl, wir verlieren. Wir hätten 500 Minuten spielen können, es wäre uns nichts gelungen. Irgendwie war das typisch für unsere Generation. Im entscheidenden Moment haben wir keine Lösung gefunden.

BILDPAKET -- ZUM JAHRESRUECKBLICK 2018 SPORT, STELLEN WIR IHNEN HEUTE FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG -- Switzerland's soccer player Valon Behrami, right, kisses his gilfriend ski racer Lar ...
Valon Behrami wird nach der Niederlage gegen Schweden von seiner Frau Lara Gut-Behrami getröstet.Bild: KEYSTONE

Haben Sie mitbekommen, wie Sie in der Schweiz für Ihre Leistung gegen Brasilien gefeiert wurden?
Nicht wirklich. Ich hätte nie erwartet, dass ein Hype daraus entsteht.

Vier Jahre später trifft die Schweiz an der Weltmeisterschaft erneut auf Brasilien. Wie hat sich die Seleçao entwickelt?
Ich denke, ihr Niveau ist viel höher als 2018. Schauen Sie auf den Angriff. ­Raphinha von Barcelona, Richarlison von Tottenham, dazu Vinicius Junior von Real Madrid, das sind eine Menge neue Stars. Und über Neymar müssen wir natürlich auch noch reden. Ich sehe bei ihm mittlerweile eine andere Mentalität. Er ist erwachsener geworden. Vor einiger Zeit hat einmal jemand gesagt: «Neymar ist der Justin Bieber des Fussballs.» Und damit gemeint, dass es bei ihm einfach gut ausschauen muss, aber nicht so sehr auf die Qualität der Aktionen ankommt. Das fand ich ziemlich treffend. Aber diese Zeiten sind vorbei. Für mich ist Brasilien der grösste Titelfavorit (das Gespräch fand vor den ersten WM-Gruppenspielen statt, d.Red.).

«Jetzt fühle ich anders, jetzt bin ich selbst ein Fan. Einer, der viele Erwartungen hat»

Was ist für die Schweiz möglich an dieser WM?
So banal es tönt: Ganz wichtig ist es, dass die Mannschaft von Spiel zu Spiel denkt. Es geht nicht, von Anfang an zu denken: Wir müssen in den Viertelfinal kommen! Von aussen betrachtet, traue ich ihr einen Exploit zu.

Mit welchen Gefühlen schauen Sie heute ein Spiel der Schweizer Nati?
Direkt nach meinem Rauswurf (nach der WM 2018) war ich sehr distanziert. Weil ich noch selbst Spieler war, meine Karriere war noch nicht zu Ende. Jetzt fühle ich anders, jetzt bin ich selbst ein Fan. Einer, der viele Erwartungen hat (lacht).

Sie haben erwähnt, wie Sie nach der WM 2018 von Trainer Vladimir Petkovic ausgemustert wurden. Seither reden sie nicht mehr miteinander. Ist für Sie eine Versöhnung ausgeschlossen?
Sie kennen mich jetzt schon während einiger Zeit, oder? Dann wissen Sie: Häufig gibt es für mich nur Schwarz oder Weiss. Etwas dazwischen ist nicht möglich. Ich habe abgeschlossen mit der Geschichte.

Switzerland coach Vladimir Petkovic, right, celebrates with Switzerland's Valon Behrami at the end of the Euro 2016 Group A soccer match between Switzerland and France at the Pierre Mauroy stadiu ...
Ein Bild aus guten Zeiten. Ex-Nationalspieler Valon Behrami und Ex-Nationaltrainer Vladimir Petkovic.Bild: AP/AP

Schmerzt es Sie, dass Sie nicht mehr dabei waren im Nationalteam, als es im letzten Jahr an der EM mit dem lang ersehnten Viertelfinal endlich klappte?
Ja, klar! Alles andere wäre gelogen. Ich dachte: «Ich habe den Viertelfinal nie geschafft – und jetzt schaffen sie es ohne mich!» Aber noch einmal, jetzt als ehemaliger Fussballer sehe ich es komplett anders. Ich freue mich für sie und hoffe, die Nati kommt möglichst weit. Und noch etwas …

Ja?
Ich denke immer wieder daran, wie es ist, eine WM zu erleben. Es ist das beste Gefühl während der ganzen Karriere! Aber im Moment selbst habe ich das nie so realisieren können. Erst jetzt im Rückblick habe ich gemerkt, was es bedeutet, an einer WM dabei zu sein.

«Im Fussball-Business gibt es keinen Raum für Schwäche.»

Warum merken Sie das erst jetzt?
Während der Karriere geht immer alles in rasendem Tempo weiter. Wir haben ein Spiel gewonnen? Ok, aber zwei Stunden später denke ich: Mein Knie tut weh. Oder mein Rücken. Egal. Kann ich morgen trainieren? Wie schaffe ich es, beim nächsten Spiel fit zu sein? Auch sportlich, das nächste Spiel, die nächste Qualifikation, die nächste Saison. Du willst immer bereit sein, willst immer mehr, du setzt dich immer unter Druck. Anstatt auf das Herz zu hören, mal innezuhalten und zu denken: Oh, wie schön doch dieser Tag ist! Das merke ich erst jetzt, zwanzig Jahre später, als ich mit dem Fussball aufgehört habe. Und ich war noch nie so glücklich wie jetzt. Aber ich will mich nicht beklagen. Jeder Fussballer bestimmt seinen Weg selbst. Und erhält viel Geld dafür. Es ist einfach interessant zu sehen, wie sehr sich das Leben verändert ohne den Fussball, vor allem mental.

Udinese's Giampiero Pinzi, left, and Napoli's Valon Behrami fight for the ball during the Serie A soccer match between Udinese and Napoli at the Friuli Stadium in Udine, Italy, Saturday, Apr ...
Seine erfolgreichste Zeit: Zwischen 2012 und 2014 spielt Behrami für Neapel. Seinem ehemaligen Team traut er nun den Titel in der Serie A zu.Bild: AP/AP

Gibt es keine Möglichkeit, während der Karriere dagegen zu wirken? Oder darüber zu reden?
Du kannst im Fussball-Business niemandem vertrauen. Fussballer müssen Alphamänner sein. Du kannst nicht über Schwäche reden. Mit wem? Mit deinem Teamkollegen? Denkst du wirklich, er ist solidarisch? Ganz früher gab es so etwas wie Team-Spirit. Heute ist doch jeder Spieler eine eigene Organisation, eine Ich-AG, es geht um viel Geld.

Mit der eigenen Familie?
Das ist auch schwierig. Klar, sie sind immer da. Aber auch meine Mutter oder mein Vater verstehen nicht, was in so einem Moment in meinem Kopf abgeht. Ich hatte manchmal nicht einmal die Kraft, ans Telefon zu gehen, wenn meine Mutter angerufen hat. Weil mein Kopf voll war mit Gedanken um das Champions-League-Spiel zwei Tage später. Um das Liga-Spiel am Wochenende. Man kann noch so sehr sagen: «Rede über deine Probleme.» Im Fussball-Business gibt es keinen Raum für Schwäche.

Und wer sie trotzdem zulässt, ist sofort weg vom Fenster?
Nein, nicht sofort! Langsam. Weil am Anfang heisst es in jedem Klub: «Was brauchst du? Wir unterstützen dich!» Aber dann, wenn die Leistung einige Monate nicht mehr stimmt, dann wird es schwierig. Dann merkt man, was diese Worte sind: Plattitüden. Und irgendwann bist du alleine.

In diesem Sommer sind sie zurückgetreten. Wann haben Sie gemerkt: Ich habe genug vom Fussball?
Ein Jahr zu spät (lacht). Ich wollte nicht mehr trainieren. Ich hatte keine Lust mehr. Es war mir egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Ich hatte einfach keine Energie mehr.

Im Sommer 2021 war das noch anders?
Ja, definitiv. Aber lassen Sie mich etwas ausholen. Nach meiner Zeit bei Sion war ich am Boden. Im Herbst 2019 war das. Ich habe vier Spiele gemacht, alle vier waren schlecht. Ich spürte, wie die Leute dachten: «Es ist vorbei mit Behrami!» Aber so wollte ich nicht aufhören. Ich habe den Vertrag aufgelöst, zwei Monate hielt ich mich alleine fit mit meinem Fitnesstrainer in Udinese. Ich hatte Angebote aus der Türkei, aus der Serie B – aber so richtig überzeugte mich keines. Dann kam der 28. Dezember 2019, um 21.30 Uhr klingelt mein Telefon. Ich schaue auf die Nummer, ein ehemaliger Trainer. Aber am Apparat ist der Präsident von Genua. Er sagt: «Hallo, wie geht’s? Kannst du herkommen, wir brauchen deine Hilfe! Erwarte einfach nicht zu viel Geld …»

Dann haben Sie unterschrieben?
Ich habe schnell zwei Koffer gepackt und bin die fünf Stunden von Udinese nach Genua gefahren, um am nächsten Morgen den Medizincheck absolvieren zu können. Dieses Gefühl alleine im Auto war unglaublich. Es war meine letzte Auferstehung. Eine letzte schöne Zeit im Fussball. Zweimal haben wir den Ligaerhalt geschafft. Dann hätte ich aufhören sollen.

Warum haben Sie es nicht getan?
Im Rückblick ist man immer schlauer. Aber wie vielen Sportlerinnen und Sportlern gelingt der Abschied auf dem Höhepunkt?

epa07735879 Sion's soccer player Valon Behrami, left, talks to his wife Lara Gut-Behrami, right, skier from Switzerland during a friendly soccer match between FC Sion from Switzerland and Valenci ...
Schweizer Traumpaar: Valon Behrami und Lara Gut-Behrami.Bild: EPA

Das letzte halbe Jahr verbrachten Sie in Brescia in der Serie B, Sie haben mir erzählt, dass der Plan gewesen wäre, Assistent des Sportchefs zu werden. Warum ist daraus nichts geworden?
Als ich im Winter 2022 meinen Vertrag mit Genua auflöste, bekam ich dieses Angebot aus Brescia. Diesen Sportdirektor kenne ich schon lange. Er sagte zu mir: «Ich verpflichte dich als Spieler, aber es ist egal, wenn du nicht häufig spielst. Gebe dich möglichst häufig mit unseren jungen Spielern ab, bereite dich vor auf die Karriere danach.» Die Idee hat mir gefallen. Doch dann hat er ein Angebot von Verona erhalten – für mich hätte das nicht gepasst. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich wieder einmal im Fussball-Business arbeite. Aber jetzt brauchte ich zuerst Abstand. Ich wollte endlich mehr Zeit zu Hause verbringen. Den Garten pflegen. Alles tun, was ich in den letzten 20 Jahren verpasst habe.

Zudem sind Sie jetzt TV-Experte!
Genau, ich analysiere für DAZN die Spiele der Serie A. Manchmal versuche ich mich als Co-Kommentator – uff, ganz schön anspruchsvoll (lacht). Es gibt Tage, da bin ich zehn Stunden im Studio. Zu diesem Job gehört es natürlich auch, sämtliche Spiele der Serie A zu verfolgen. Das ist gut, weil ich sie ohnehin schauen würde.

Sie schauen jedes einzelne Spiel?
Fast ohne Ausnahme, ja. Manchmal, wenn ich Termine habe und Spiele verpasse, dann schaue ich mir im Nachhinein mindestens 30 Minuten an. So lege ich mir eine persönliche Data-Base an. Ich werde auch fast alle Spiele der WM schauen. Diese verfolge ich als Experte für das Tessiner Fernsehen.

Als Sie noch Fussball spielten, befürchteten Sie, Ihr Körper ­könnte womöglich Tribut zollen für all die Strapazen während der Karriere. Ist es so?
Nein! Ich bin selbst ein bisschen erstaunt. Mittlerweile habe ich eine kleine Routine, ich beginne den Tag um 9 Uhr im Gym, absolviere eine Runde Crossfit. Das gibt mir Struktur. Und ich merke, wie sich mein Körper befreit fühlt vom Druck, am nächsten Samstag auf dem Platz zu stehen und Höchstleistungen zu vollbringen. Wenn der Kopf frei ist, geht es auch dem Körper gut. (aargauerzeitung.ch)

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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P.Rediger
26.11.2022 10:22registriert März 2018
Schön mal wieder von ihm zu lesen. Er kommt sympathisch und abgeklärt rüber.
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T13
26.11.2022 11:12registriert April 2018
Hehe das Bild auf dem die Diva aufm Rasen liegt und sich windet während die drei Schweizer ihr lachend zusehen ist einfach grossartig. 😆
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tr3
26.11.2022 11:42registriert April 2019
Udine heisst die Stadt, nicht Udinese.

Und zu Behrami: einer der Grössten, die die Nati je hatte. Was für ein Kämpfer! Das Highlight war die Szene gegen Ecuador 2014.
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