Den härtesten Schlag landete Anthony Joshua weit nach dem Gong. Der Kampf gegen Oleksandr Ussyk, dem amtierenden Weltmeister im Schwergewicht nach Version der Boxverbände IBF, WBO und WBA, war schon eine Weile vorbei. Joshua hatte nach Meinung der Punktrichter (und auch der meisten unabhängigen Beobachter) verloren, da stürmte der 33 Jahre alte Brite aus dem Ring – ohne sich den obligatorischen Post-Fight-Interviews gestellt zu haben.
Irgendjemand aus Joshuas Team, mutmasslich ein Mitarbeiter seiner Managementfirma Matchroom Boxing, pfiff Joshua zurück. Er kam tatsächlich noch einmal in das Ringgeviert, wo sein Widersacher Ussyk stand und bescheiden feierte.
Joshua schnappte sich die ukrainische Fahne, legte sie sich um die Schultern und setzte zu einer denkwürdigen Brandrede an, in deren Verlauf er reichlich wirres Zeug zum Besten gab und mehr verbale Breitseiten abfeuerte, als er in den zwölf Runden zuvor Schläge ins Ziel gebracht hatte. Ussyk, der strahlende Sieger, dem eigentlich das erste Wort gehört hatte, stand derweil im Nirgendwo. Verdammt zu einer Statistenrolle. Er wunderte sich vermutlich genauso über den Wutausbruch seines Berufskollegen, wie der Rest der Zuschauer.
Anstatt den Kampf und die Leistung seines Gegenüber zu kommentieren, wie es nach solche. Duellen üblich ist, fabulierte Joshua über seinen Stellenwert innerhalb des Schwergewichtsboxens. Er machte klar, dass ihn die Vergleich mit den Grössen vergangener Tage, Mike Tyson, Lennox Lewis, Rocky Marciano, stören. Ja, dass sie ihm massiv zu schaffen machen. Aus dem Knast sei er gekommen, habe sich hochgearbeitet und überhaupt, sei er viel schwerer als die Legenden von früher und deshalb auch ein anderer Boxer.
Das alles stimmte. Und doch erschütterte der Auftritt die Boxwelt. Nicht nur, weil Joshua kurz nach dem Ende des letzten Gongs Ussyk über die Aussenmikrofone gut hörbar vorgeworfen hatte, «Kinderboxen» zu betreiben. Sondern weil der Brite in der Rede seine ganzen Selbstzweifel in die Welt kippte.
Kaum etwas von dem, was Joshua da sagte, machte Sinn. Es wirkte wie die Rede eines Verwirrten. Da stand jemand, der verzweifelt um Anerkennung buhlte. Der trotz überwältigender Zustimmungsraten in seinem Heimatland und vieler Millionen auf dem Konto, offenbar nicht weiss, welchen Platz er hat. Joshua faselte gegen die Wirklichkeit an. Gegen die Tatsache, dass er verloren hatte gegen Ussyk. Zum zweiten Mal.
Der Ukrainer hatte den Kampf nach 12 intensiven Runden vollkommen zu Recht gewonnen. Es war ein Duell auf allerhöchstem Niveau, das man so selten in dieser Gewichtsklasse zu sehen bekommt. Joshua, der von Ussyk im September 2021 in einem spektakulären Kampf in London entthront worden war, zeigte eine seiner bisher besten Leistungen. Er versuchte, das Gefecht aus der Mitte des Ringes zu dominieren. Joshua nervte Ussyk mit einer kompakten Deckung und lauerte darauf, seinen gefürchteten Aufwärtshaken an den Mann zu bringen. Allein, er traf nicht.
Mit erstaunlicher Beharrlichkeit pendelte Ussyk seinen Herausforderer aus. Wie Quecksilber waberte der Ukrainer durch den Ring, liess Joshuas Schläge immer wieder verpuffen und bewies die vielleicht staunenswerteste Kondition, die je ein Schwergewichtsboxer in einen Zwölf-Runden-Vergleich mitbrachte.
Selbst in Runde zwölf wirkte Ussyk so, als hätte der Kampf gerade eben erst angefangen. Alert, agil, aggressiv. Nicht zu treffen. Sein Team bezeichnet Ussyk als «Cyborg», als eine Mischung aus Mensch und Maschine. Der neutrale Beobachter darf bei solchen Etikettierungen misstrauisch werden. Aber vielleicht trieb Ussyk auch einfach die Sorge um seine Landsleute an.
Zwar fanden Joshuas Schläge häufiger ins Ziel als im ersten Kampf zwischen den beiden. Insbesondere in Runde fünf und Runde neun, als es so aussah, dass der Faustkämpfer, der mit einem 100-Millionen-Dollar-Vertrag ausgestattet wurde, Ussyk tatsächlich gefährlich werden könnte, zeigte der Brite, wozu er sportlich in der Lage ist. Doch sein Widersacher bewies ebenso gute Nehmerqualitäten und steckte alle Attacken locker weg. Ussyk ist 35 Jahre alt. Und auf dem Zenit seines Könnens. Er dankte nach dem Duell nicht nur Gott, sondern auch seinen durch den Krieg gebeutelten Landsleuten und den ukrainischen Soldaten.
Als Russlands Diktator Wladimir Putin Ende Februar im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieg die Ukraine überfallen liess, meldete sich Ussyk freiwillig zu den Streitkräften und zog in den Krieg. Nach einem Monat wurde er abgezogen. Sein Wert als sportlicher Botschafter des Landes war offenbar zu hoch. In Dschidda, in Saudi-Arabien, wo der Kampf stattfand, bewies Ussyk nun einmal mehr, dass er das Mass aller Dinge in der höchsten Gewichtsklasse des Boxsports ist.
Nun blickt die Boxwelt gespannt darauf, ob aus Tyson Furys Reaktion Realität wird. «Holt die Scheckbücher raus», sagte der zweite Schwergewichts-Champion der Welt in einem Videobeitrag. Der Brite hat das Schwergewicht in den vergangenen Jahren dominiert und im Mai, nach dem Kampf gegen Dillian Whyte, seinen Rücktritt erklärt.
Dass dieser Rücktritt kaum ein längeres Haltbarkeitsdatum als eine Tüte pasteurisierter Milch haben dürfte, ist jedem im Boxgeschäft klar. Es geht um Grund nun nur noch darum, wann, wo und zu welchem Preis sich Fury dem Kontrahenten aus der Ukraine stellt. In der Branche munkelt man schon von einem 500-Millionen-Dollar-Kampf. Es wäre nicht nur eine gigantische Summe im Boxen. Es würde den Sport an sich vermarktungstechnisch in neue Dimensionen heben.
Bleibt zu hoffen, dass dieses vermeintliche Duell nicht erneut in Saudi-Arabien stattfindet. Der Schurkenstaat, der sich mit den Einnahmen aus dem Ölgeschäft neuerdings mit dem Image einer Sportdestination weisswaschen will, hatte erst in dieser Woche ein Skandalurteil produziert. Da wurde die Aktivistin Salma al-Schihab zu 34 Jahren Haft verurteilt, weil sie bei Twitter ein paar harmlose Posts in Sachen Freiheit und Gerechtigkeit verbreitet hatte.
Den Boxzirkus störte das offenkundig wenig. Joshuas Manager Eddie Hearn pries die ganze Woche lang ausdauern die Qualitäten der saudi-arabischen Gastgeber. Man fühle sich so wohl wie nirgends sonst auf der Welt, liess der gewiefte Promoter verlauten. Und selbst Ussyk, der Kämpfer für Gerechtigkeit für die Ukraine, entblödete sich in seiner an Joshuas Wutrede anschliessende Danksagung nicht, die chauvinistischen Menschenrechtsverächter aus dem Ölstaat am Golf mit einem «Inschallah» (zu deutsch: So Gott will) zu umgarnen.
Das Wahhabiten-Regime lässt westliche Sportveranstaltungen austragen. Von westlichen Werten ist es dagegen Lichtjahre entfernt. Es wäre ein Kampf, den zu kämpfen sich lohnte. Und den ein beeindruckender Champion wie Ussyk eigentlich nicht scheuen dürfte. Aber dafür ist dann trotz aller Ehre und Solidarität mit seinem geschundenen Volk wohl doch zu viel Geld im Spiel.