Man kann den englischen Fans vorwerfen, dass sie gelegentlich Probleme verursachen. Man kann von ihren Trinkliedern und Armdrückwettbewerben genug haben. Man kann ihnen alles vorwerfen: dass sie saufen, schmutzig sind, laut reden und falsch singen, dass sie in alle Ecken pinkeln, sogar ihre Frisuren und ihre triefenden Burger, wenn man es wirklich will.
Aber die englischen «Saufbolde» waren nicht schuld an den teils barbarischen Szenen, die sich am Samstagabend vor dem Stade de France ereigneten. Denn Zeugenaussagen zeigen eine ganz andere Realität: Als der Anpfiff erfolgte, steckten die Liverpool-Fans hinter geschlossenen Türen fest. Es waren die einzigen Türen, durch die Tausende von Fans gehen durften. Und die meisten dieser Leute warteten schon seit zwei Stunden. Brav.
Sicherlich gab es in der Schlange auch Trittbrettfahrer, Fälscher und vereinzelte Schläger, die sich unter die Masse mischten. Aber wie uns einige grosse Journalisten der Sportpresse erinnerten, gibt es Ticketschummler im europäischen Fussball seit 100 Jahren und sie bereiten 2022 keine grösseren Probleme mehr. Ausser in Frankreich.
So kam es, dass Tausende von ehrlichen, pünktlichen und zivilisierten Menschen nicht den Platz erreichen konnten, für den sie 500 Euro oder noch viel mehr bezahlt hatten. So wurden Eltern und ihre Kinder mit Tränengas attackiert, geschubst und in einer Menschenmenge gefangen, die nur entstand, weil mehrere Türen geschlossen wurden. So sahen Menschen bestenfalls noch einen Teil eines Fussballspiels, für das sie teils monatelang gespart haben und erst nachdem sie beweisen konnten, dass sie keine Betrüger sind.
Ein weiterer beunruhigender Punkt in den Berichten aus Paris: Viele Menschen, die im Besitz eines gültigen Tickets waren, wurden vor dem Stadion als angebliche Fälscher abgewiesen. Wir sprechen hier nicht von betrunkenen, unzufriedenen Jugendlichen, sondern von einer französischen Olympiasiegerin im Boxen, von einem berühmten Fernsehmoderator, vom Bruder eines Liverpool-Verteidigers und von einem englischen Parlamentsabgeordneten.
Wenn die UEFA also Tausende von gefälschten Tickets, die in den englischen Reihen im Umlauf gewesen sein sollen, für das Chaos verantwortlich macht, erscheint das Argument zumindest zweifelhaft. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Ordner vor den Toren nicht in der Lage waren, ein echtes von einem gefälschten Ticket zu unterscheiden. Oder offensichtlich nicht immer.
Schlimmer noch: In ihren ersten gemeinsamen Mitteilungen versuchten die UEFA und der französische Innenminister Gérald Darmanin, die Unfähigkeit der Organisation hinter der angeblich verspäteten Ankunft der Fans zu verstecken. Gleichzeitig zeigten Bilder und Aussagen auf Social Media das genaue Gegenteil. Der frühere englische Nationalspieler Gary Lineker sprach von «der schlechtesten Organisation, die es auf diesem Niveau je gegeben hat».
I’m not sure it’s possible to have a more poorly organised event if you tried. Absolutely shambolic and dangerous. @UEFAcom
— Gary Lineker 💙💛 (@GaryLineker) May 28, 2022
Der britische Parlamentarier Ian Byrne berichtete von «schrecklichen Sicherheitsvorkehrungen und einer Organisation, die Leben gefährdet». Der Sonderkorrespondent von «The Athletic» beschrieb «Polizeikontrollen direkt nach sehr engen Passagen, die durch die Anwesenheit von Kastenwagen noch enger gemacht wurden». Doch selbst bei genauerem Hinsehen erkennt Innenminister Gérald Darmanin das Problem immer noch nicht.
Auch wenn die Verantwortung zwangsläufig geteilt werden wird, war dieser Abend für den Ruf des französischen Know-hows verhängnisvoll. Er hat der ganzen Welt eine krankhafte Desorganisation vor Augen geführt, die den regelmässigen Besuchern der Ligue 1 wie auch anderen Akteuren der französischen Gesellschaft seit Langem bekannt ist. Gewalttätigkeit, Spielunterbrechungen, Verspätungen und Streiks werden heute implizit mit Missständen in Verbindung gebracht, die für andere Nationen unmöglich zu verstehen sind, dem eigenen Innenminister aber ebenso fern erscheinen.
Zwei Jahre vor den Olympischen Spielen in Paris dürfen die Reaktionen auf die Ausschreitungen um das Stade de France nicht so vorschnell und unbekümmert sein.
Stellen wir uns einmal vor, diese Szenen hätten sich beim Afrika-Cup abgespielt und Gérald Darmanin wäre ein kamerunischer Minister gewesen, der das Chaos auf wenige Betrüger zurückgeführt und wiederholt hätte, dass die Organisation tadellos gewesen sei. Wir hätten noch lauter gelacht als ein englischer Fan.
Es ist 2022 und der Championsleague Final. Aber Hauptsache die für die UEFA relevanten Fans durften nich ein wenig länger Werbung schauen.
Alle Fans gemischt, gelb neben blau, ein super spannendes Spiel bei toller Stimmung — es geht in Frankreich offenbar auch ganz anders.
P.S. Die Tickets sind auch für jeden erschwinglich.