Gegen Ende des Spiels bekommt er noch einmal zwei Freiwürfe. Diese verwandelt Donovan Mitchell beide perfekt, der Ball berührt den Ring nicht einmal. Der 26-Jährige ist ein sicherer Schütze, doch wenige Minuten zuvor verfehlte er aus derselben Position – mit Absicht. Denn nur so hatten seine Cleveland Cavaliers noch eine Chance auf den Sieg.
4,7 Sekunden vor Ablauf der regulären Spielzeit sind die Cavs gegen Chicago 127:130 in Rückstand, die Gäste foulen Mitchell sofort, damit dieser keine Chance bekommt, mit einem Dreipunktewurf auszugleichen. So muss er an die Freiwurflinie, wo er nur zwei Punkte machen kann. Beim zweiten Wurf versucht er dann aber gar nicht erst, durch die Reuse zu treffen. Vielmehr wirft er genau an den hinteren Teil des Rings, schnappt sich den Rebound und verwandelt seinen Wurf im Fallen. Es ist der Ausgleich, das Spiel geht in die Verlängerung – und die historische Leistung Mitchells wird dadurch erst möglich.
Zu diesem Zeitpunkt hat der Shooting Guard 58 Punkte auf dem Konto, eine sehr starke Leistung, aber gerade erst schaffte Luka Doncic von Dallas gar 60 Punkte. Doch in der fünfminütigen Verlängerung erzielt Mitchell dann 13 der 15 Punkte seines Teams und führt Cleveland so zum 145:134-Sieg gegen die Bulls. Seine eindrückliche Statistik nach der Partie liest sich so: 71 Punkte, 11 Assists, 8 Rebounds. Dies ist einmalig in der langen Geschichte der NBA: Noch nie erzielte ein Spieler mindestens 70 Punkte und gab auch noch 10 Assists in einer Partie.
«Das ist die beste Leistung, die ich in meinen 15 Jahren als Spieler gesehen habe», sagt Teamkollege Kevin Love nach dem Spiel. Love spielte unter anderem mit LeBron James und Kyrie Irving. Doch keiner der beiden kam in einem Spiel je auf so viele Punkte. Überhaupt erzielten nur drei NBA-Profis in einer Partie mehr Punkte als Mitchell in der Nacht auf Dienstag: Wilt Chamberlain (1961 und 1962, insgesamt fünfmal), der einzige Basketballer, der 100 Punkte in einem Spiel erreichte, Kobe Bryant (2006, 81 Punkte) und David Thompson (1978, 73). Die höchste Punktzahl, die NBA-Überfigur Michael Jordan erreichte, waren 69 Zähler im Jahr 1990.
Zählt man auch die Punkte dazu, die durch die Assists entstanden sind, kommt Mitchell auf 99 Punkte – und wird nur noch von Chamberlain (104) übertroffen. Kein Wunder, schwärmt auch Trainer J. B. Bickerstaff von «einer der grossartigsten Leistungen in der Geschichte dieses Spiels». Mitchell hingegen wusste gar nicht so recht, was er sagen soll: «Ich bin sprachlos, um ehrlich zu sein. Mit Leuten wie Wilt in den Rekordbüchern zu stehen, ist wirklich überwältigend.» Besonders froh sei er aber darüber, dass er seinem Team so zum Sieg verhelfen konnte, obwohl Cleveland zwischenzeitlich 21 Punkte in Rückstand lag.
Dies beeindruckt Bickerstaff ebenfalls. So sagt der 43-jährige Coach: «Donovan hat sich selbst nie über das Team gestellt, wie kann man so einen Typen nicht mögen?» Mitchell, der 2017 im Draft von Utah an 13. Stelle gewählt wurde, kam im Sommer per Trade nach Cleveland. Den dreifachen All-Star liessen sich die Cavs mehrere Spieler und Draft-Picks kosten. Davon erhofften sie sich, dem jungen Kern um Darius Garland und Evan Mobley einen bewährten Topspieler hinzuzufügen. Dies macht sich bisher hervorragend ausbezahlt. Mit 24 Siegen bei erst 14 Niederlagen steht Cleveland auf dem vierten Platz der Eastern Conference.
Nicht nur, aber vor allem auch wegen Mitchell, der in mehreren Kategorien neue Karriere-Bestwerte auflegt. So erzielt er 28 Punkte pro Spiel und trifft seine Würfe so gut wie noch nie. Um diese Form zu erreichen, bereitete sich Mitchell im Sommer unnachgiebig auf die neue Saison vor. Obwohl er da noch nicht wusste, dass er bald für Cleveland spielen würde. Wie NBA-Experte Brian Windhorst schreibt, trainierte er härter als je zuvor, absolvierte selbst in der Miami-Hitze von fast 40 Grad täglich mehrere Sprints.
New Year New Me😂… 71 of them thangs ‼️‼️ pic.twitter.com/eqTSqAEKk8
— Donovan Mitchell (@spidadmitchell) January 3, 2023
Auch deshalb war er wenige Sekunden vor Schluss gegen Chicago der Erste beim zurückspringenden Ball und ermöglichte sich so seine historische Leistung. Am Ende sagt Mitchell: «Ich habe immer daran geglaubt, dass ich einer der besten Spieler in dieser Liga sein kann. Ich habe mich selbst dazu gezwungen.»