Albert Einstein hat uns gelehrt, dass Zeit relativ ist. Stark vereinfacht erklärt: Die Zeit vergeht nicht überall gleich schnell. Sie ist abhängig von Raum und Körper. In einem Raumschiff, das mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, läuft die Zeit beispielsweise langsamer als daheim auf der Erde.
In gewisser Weise lässt sich die Relativität der Zeit sogar im Sport erleben: Für die Spieler und Fans eines Teams, das einen Vorsprung über die Zeit retten will, vergeht die Zeit langsamer als für die Mannschaft, die den Rückstand aufholen sollte.
Noch eindrücklicher erlebt ein alter Chronist die Abhängigkeit der Zeit von Körper und Raum bei Olympischen Spielen. Erst recht in Peking, wo die Spiele in einem von der Aussenwelt abgeschlossenen Parallel-Universum stattfinden.
Die Zeit läuft im gewöhnlichen Leben anders. Sie ist getaktet. Nicht im Walzertakt. Schon eher im Rhythmus des Rock’n’Rolls. Ein Tag ist intensiver. Weil an einem Tag viel mehr zu erledigen ist. Erstens viel Arbeit und zweitens viele sonstige Pflichten. Wir sind ungeduldig. Wir dürfen keine Zeit verlieren oder verschwenden. Zeit ist Geld. Warten macht nervös. Und telefonieren, immer wieder telefonieren. Wir eilen, wir stressen. Wir bestimmen den Rhythmus der Zeit. Oder glauben es wenigstens.
Die Olympischen Spiele lehren den Chronisten, geduldig zu sein. Mehr als zwei Termine pro Tag sind fast nicht möglich. Hier verlieren wir die Hoheit über den Ablauf der Zeit.
Den Rhythmus bestimmen die Busverbindungen. Sie lassen sich nicht beschleunigen. Und sie lassen sich nicht umgehen. Diese Verbindungen sind die gemächlichen, unerschütterlichen Taktgeber der Zeit. Mehr als eine halbe Stunde dauert allein die Fahrt vom Hotel zum Medienzentrum. Von dort dauert eine Fahrt, je nachdem, wohin die Reise gehen soll, bis zu drei Stunden. Die Bushaltestellen sind in Peking wie Inseln in der Zeit. Das bedeutet: Etwas vergessen? Pech gehabt. Eine Rückkehr ins Hotel, um etwas zu holen, kann je nach Busverbindungen einen halben Tag kosten. Es ist, wie es ist.
Was das Zeitempfinden in der Parallel-Welt Olympia auch ändert: das Fehlen der vielen täglichen kleinen Pflichten. Auf einmal wird klar, wie sehr diese kleinen Pflichten – mit dem Hund spazieren, Rechnungen bezahlen, bei den Eltern vorbeischauen, einkaufen, pünktlich zur Arbeit erscheinen und so weiter und so fort – Zeit beanspruchen. Und Telefonate gibt es fast keine mehr. Der Chronist ist ja in Peking. Weit weg. Wir warten, bis er wieder zurück ist. Fast wie ein Leben ohne Hosentelefon.
Die Zeit vergeht im olympischen Universum viel schneller als ausserhalb in der richtigen Welt. Weil sie gleichmässiger dahinfliesst. Weil sie weniger oft in ihrem Lauf durch unvorhergesehene kleine Ereignisse unterbrochen wird. Weil ihr Lauf durch den Busfahrplan tagein, tagaus geregelt wird.
Peking 2022 beschert uns die Spiele der rasenden Zeit. Weil hier zum ersten Mal die olympische Parallel-Welt nicht verlassen werden kann. Weil es hier während der Dauer der Spiele so wenig Ablenkung aus der richtigen Welt gibt wie noch nie bei Olympischen Spielen.
Albert Einstein hatte recht. Die Zeit ist relativ. Die Uhren laufen während Peking schneller als vorher und nachher.