Das «Boat One» des Alinghi Red Bull Racing Teams gleitet nicht über das Mittelmeer vor Barcelona, es fliegt. Es hebt ab, wird vom Foil über das Wasser getragen. Das Team befindet sich mitten in den Vorbereitungen auf den America's Cup, der ab Ende August in Barcelona stattfindet. Die in dieser Woche in Paris startenden Olympischen Spiele sind weit weg.
Auf dem Boot des Schweizer Teams sind aber mehrere Topathleten, die auch in Paris hätten starten können. Wenn das Boot über das Wasser gleitet, sind acht Personen an Bord. Vier davon strampeln auf einem Velo. Warum? Während früher die Segel von Hand mit Seilwinden eingestellt wurden, wird die dafür nötige Energie mittlerweile mit den Beinen auf Velos erbracht. Die Seile sind auf dem Hightech-Boot von oben nicht zu sehen, sind aber unterirdisch mit einem hydraulischen System verbunden.
Es sind nicht irgendwelche Athleten, die für die erste Alinghi-Teilnahme am America's Cup seit 2010 ausgesucht wurden. Alle Besatzungsmitglieder müssen aus dem Land des Teams stammen. Und so hat das Segelteam nach guten Schweizer Athleten gesucht – und ist dabei auch bei möglichen Olympioniken gelandet.
Barnabé Delarze war an den letzten Spielen noch Teil des Ruder-Doppelzweiers der Schweiz. Mit grossen Medaillenchancen angereist, endeten die Spiele 2021 in Tokio in einer grossen Enttäuschung. Zusammen mit Roman Röösli holte sich Delarze den fünften Rang, die angestrebte Medaille wurde verpasst. Im Jahr darauf studierte er in Oxford, wo er unter anderem mit Röösli das traditionelle «Boat Race» im Achter gegen Cambridge gewann.
Röösli entschied sich danach, einen nächsten Olympia-Anlauf zu nehmen, Delarze wechselte zur Alinghi Red Bull Racing. Röösli holte zusammen mit seinem neuen Partner Andrin Gulich im Zweier ohne Steuermann im letzten Jahr den WM-Titel, das Duo gilt nun in Paris als grosse Medaillenhoffnung für die Schweiz.
Delarze lebt nun in Barcelona und ist Segelprofi. «Ich hatte es gesehen mit dem Leben als Ruderer. Meine einzige Motivation, weiterzumachen, wäre es gewesen, die verpasste Medaille von Tokio in Paris zu holen», erzählt er. Aber dafür noch einmal Jahre zu investieren, ohne die Garantie zu haben, dass es diesmal mit der Medaille klappt? Das wollte Delarze nicht. «Hier ist für mich alles neu: eine neue Sportart, ein neuer Wettbewerb, eine neue Herausforderung. Darauf hatte ich Lust.»
Delarze habe gelernt, zu segeln, sagt er mit einem Augenzwinkern. Die Mitglieder der Power Group verstehen manchmal nur wenig, wenn die Segelspezialisten des Teams über Details diskutieren. Dennoch haben sie natürlich die Abläufe auf einem Segelschiff lernen können. «Es ist eine andere Welt als beim Rudern, sehr interessant», so Delarze.
Für die Aufgabe auf dem Velo des Segelboots sind die kräftigen Spitzen-Ruderer ideale Kandidaten. Auf dem Boot sind sie fix positioniert, sind bei voller Fahrt kaum zu sehen. Auch sie selber sehen wenig. Ihr Blick hängt an Bildschirmen, die ihnen anzeigen, wann sie Leistung erbringen müssen. Sie treten durchgehend in die Pedale, steht aber ein Manöver an, müssen sie 20 bis 30 Sekunden Vollgas geben.
Auch der Thurgauer Nico Stahlberg ist beim Segeln gelandet. Zweimal hat er als Ruderer an Olympischen Spielen teilgenommen, im Herbst 2021 ist er zurückgetreten, «auf holprigem Weg». Er spürte zuletzt wenig Wertschätzung vom Verband, nun fühlt er sich umso wohler beim Segelteam. «Für mich kam die Möglichkeit mit Alinghi Red Bull Racing zum richtigen Zeitpunkt», sagt er, der zu jenem Zeitpunkt auch sein Forstwirtschaftsstudium abgeschlossen hatte. «Statt im Büro zu arbeiten, kurble ich jetzt auf der Alinghi. Das passt», sagt er. Seine Freundin, die jetzt Lehrerin an einer Schweizer Schule in Barcelona ist, begeisterte sich schnell für das Auslandabenteuer.
Stahlberg macht auch keinen Hehl daraus, dass gerade für einen Ruderer das Segelprojekt finanziell interessant ist. «Als Ruderer musste man immer kämpfen, um durchzukommen, oft musste man auch eine Weile auf seine Preisgelder warten und konnte nur schwer planen. Hier haben wir einen monatlichen Lohn und einen normalen Arbeitsvertrag, das gibt Sicherheit», so der 32-Jährige.
Eine etwas andere Biografie als die Ruderer hat der Berner Franco Noti. Er war früher ein talentierter Läufer über 1500 m. «Mein Ziel waren die Olympischen Spiele in Paris», erzählt er. Als Läufer war Noti aber oft verletzt, kämpfte mit Problemen. «Ich habe immer gemerkt, wenn ich viel trainieren kann, ist sehr viel möglich.»
In einem Trainingslager in Girona passierte es dann erneut, Noti erlitt eine Stressreaktion im Fuss. Erneute Schmerzen. «Darum hatte ich das Gefühl, dass ich etwas ändern muss.» Noti mietete sich ein Rennvelo und fuhr so lange, wie es möglich war. Er fuhr von Girona 600 Kilometer bis nach Alicante. Und Noti merkt nicht nur, dass er Spass hat, sondern auch, dass er körperlich in guter Verfassung ist. Er beginnt regelmässig zu trainieren, zu schauen, was auf dem Velo möglich ist.
Seine Leistungsdaten sind so gut, dass er auffällt. Er fährt einige kleine Rennen, macht Leistungstests beim Veloteam Red Bull Bora-Hansgrohe. Dort hätte er wohl Teil des Continental Teams werden können, gleichzeitig kam die Möglichkeit des America's Cup. «Ich musste mich rasch entscheiden. Der Prozess bei Alinghi Red Bull Racing war weiter. Und weil es mir hier so gefiel, habe ich diese Chance angenommen», erzählt Noti.
Der Leichtathlet musste an Muskelmasse zulegen, weil die Velofahrer auf einem Segelschiff in kürzester Zeit grosse Wattzahlen liefern müssen. Anders als bei der Tour de France ist es nicht so, dass die Velofahrer auf einem Segelschiff möglichst leicht sein müssen. Deshalb sind die Ruderer mit ihrer Postur so gut dafür geeignet, auf dem Segelschiff für die nötige Energie zu sorgen. Nun träumen sie statt von olympischem Edelmetall in Paris vom Sieg der ältesten Segelregatta der Welt: dem America's Cup.
Jetzt wäre noch interessant, mehr über die eigentlichen Segelaspekte zu lesen.