An den Olympischen Spielen in Paris wird eine Premiere gefeiert: Zum ersten Mal nehmen an den Wettkämpfen genau gleich viele Frauen wie Männer teil.
Waren an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen noch gar keine Frauen zugelassen, stieg der Anteil über die Jahre langsam, aber stetig an, lag in Peking vor vier Jahren bei 48 Prozent und erreicht in der 33. Ausgabe in Paris nun zum ersten Mal exakt 50 Prozent. Von den 10'500 Teilnehmenden sind 5250 weiblich.
Eine Regel, dass jedes nationale Komitee genau gleich viele Frauen wie Männer an den Start schicken muss, existiert nicht. Umso erstaunlicher ist es, dass drei der sechs Teilnehmenden aus Afghanistan, wo der Frauensport unter der Talibanherrschaft extremst eingeschränkt ist, Frauen sind. Denn: Eine der ersten Amtshandlungen der Taliban-Regierung, nachdem sie 2021 in Kabul einmarschiert war, bestand darin, Frauen und Mädchen vom Sport auszuschliessen.
Die Akte Afghanistan beschäftigt das Internationale Olympische Komitee (IOC) schon seit längerem, denn der Umgang damit ist komplex und wird kontrovers diskutiert. Das IOC sagte im April noch, dass die Taliban-Regierung als Teilnahmebedingung wiederholt dazu aufgefordert wurde, «die derzeitigen Beschränkungen des Zugangs zum Sport für Frauen und junge Mädchen in Afghanistan aufzuheben».
Rund drei Monate sind seit dieser Aufforderung vergangen, verändert hat sich für die Frauen in Afghanistan nichts. Trotzdem darf das Land an den Olympischen Spielen teilnehmen.
Als die Taliban 1996 erstmals die Macht in Afghanistan übernommen hatten, entschied sich das IOC für eine andere Herangehensweise. Zur Jahrtausendwende wurde Afghanistan mit Verweis auf die Diskriminierung von Frauen von den Olympischen Spielen in Sydney ausgeschlossen. Mit dem Sturz der islamistischen Regierung im Jahr 2001 wurde der Ausschluss aufgehoben.
Daran, ob es vertretbar ist, an den Spielen, die unter dem Motto «Games wide open» («Offene Spiele») ausgetragen werden, ein Land willkommen zu heissen, in dem nur die Hälfte der Bevölkerung überhaupt Sport treiben darf, scheiden sich die Geister. Leidtragende eines Ausschlusses wären in erster Linie die Athletinnen und Athleten, das weiss auch die Aktivistin Friba Rezayee, die Afghanistan 2004 als eine der ersten Frauen an den Olympischen Spielen vertreten hatte.
Die Judoka fordert dennoch, dass ihre Heimat von den Spielen ausgeschlossen wird, denn das Land, so Rezayee, verstosse mit der Einschränkung der Frauenrechte «gegen die Menschenrechte ebenso wie gegen die olympische Charta». Mit dieser Aussage zielt Rezayee auf das vierte grundlegende Prinzip des Olympismus ab, das besagt:
Das Paradoxe an der ganzen Situation: Die drei teilnehmenden Frauen und zwei der Männer leben im Exil. Denn insbesondere die beiden Radfahrerinnen (die Schwestern Yuldoz und Fariba Hashimi) sowie die Sprinterin (Kimia Yousofi), die für Afghanistan antreten, hätten in ihrer Heimat gar nicht erst die Möglichkeit, ihre Leidenschaft auszuüben.
Trotz dieses Umstandes wird Afghanistan mit der schwarz-rot-grünen Fahne auch an der 33. Ausgabe der Olympischen Spielen als zweite Nation hinter der Gastgeberin ins Stadion einlaufen. Wurden in der UNO nach dem Regimewechsel und dem einhergehenden Sportverbot für Frauen noch Stimmen laut, dass in Afghanistan eine «Geschlechter-Apartheid» herrsche und das Land von internationalen Sportwettbewerben ausgeschlossen werden sollte, ist das Sportverbot für Frauen in Afghanistan mittlerweile zum Status quo und die Boykottaufrufe leiser geworden.
The Australian Olympic Committee has congratulated dual Olympian track sprinter Kimia Yousofi, now based in Australia, on her selection in the Afghanistan Olympic Team for the Paris 2024 Olympic Games.
— AUS Olympic Team (@AUSOlympicTeam) July 8, 2024
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Um den sechs Athletinnen und Athleten die Teilnahme in Paris zu ermöglichen, arbeitete das IOC mit dem nationalen Komitee Afghanistans, dessen Mitglieder mehrheitlich im Exil leben, zusammen. Die De-Facto-Regierung, die bisher von keinem Land anerkannt wurde, ist in Frankreich jedoch nicht erwünscht, wie der IOC-Sprecher Mark Adams klarstellte: «Kein Vertreter der Taliban-Regierung wird für die Olympischen Spiele akkreditiert werden», sagte er. Auch die Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis auf weissem Grund, die von der Regierung verwendet wird, soll in Paris nicht zu sehen sein.
Die Taliban-Regierung ihrerseits anerkennt nur die drei Athleten als Vertreter des Landes: «Nur drei Athleten vertreten Afghanistan», sagte Atal Mashwani, der Sprecher der Sportdirektion der Taliban-Regierung, und lieferte auch gleich eine Erklärung für diese offensichtlich falsche Aussage: «In Afghanistan wurde der Sport für Frauen eingestellt. Wie kann eine Frau in die Nationalmannschaft kommen, wenn sie keinen Sport treibt?»
In ihrer ganzen Komplexität offenbart sich die Frage, ob Afghanistan von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden sollte oder nicht, in der Person der Sprinterin Kimia Yousofi, die für Afghanistan nach Paris reist. Die 28-Jährige lebt und trainiert seit 2021 in Australien. Yousofi sieht in ihrer Teilnahme – es ist bereits ihre dritte – eine starke Symbolkraft und in der Plattform, die sie erhält, eine Möglichkeit, die Situation von Frauen und Mädchen in ihrer Heimat anzuprangern:
Der französische Verband will nicht dass Musliminnen mit Kopftüchern teilnehmen.
Und ich will dass Frauen selber entscheiden dürfen wo sie teilnehmen und in welcher Kleidung sie dies tun.
(gilt insbesondere auch für Beach Volleyball)