Der Skandal, der nicht nur die Schachwelt in Atem hält, hat eine neue Wendung genommen. Gemäss einem Bericht von chess.com ist es wahrscheinlich, dass Hans Niemann in über 100 Spielen betrogen hat. Auch wenn es sich bei diesen einzig um Online-Partien handle, bräuchte es auch bei einigen Turnieren am Brett weitere Untersuchungen, heisst es in dem Bericht.
Erstmals aufgebrandet ist die Diskussion Anfang September, als der 19-jährige Niemann völlig überraschend gegen Magnus Carlsen gewinnen konnte. Der Norweger ist seit 2013 Weltmeister und zog sich anschliessend aus dem Turnier zurück. Äussern wollte er sich zu dem Vorfall aber vorerst nicht. Wenige Wochen später brach Carlsen eine Partie gegen Niemann bei einem Online-Turnier nach dem ersten Zug ab und versprach nach dem Spiel eine baldige Stellungnahme.
Another shocker as @MagnusCarlsen simply resigns on move 2 vs. @HansMokeNiemann! https://t.co/2fpx8lplTI#ChessChamps #JuliusBaerGenerationCup pic.twitter.com/5PO7kdZFOZ
— chess24.com (@chess24com) September 19, 2022
Diese folgte dann auch. In einem ausführlichen Statement schrieb er: «Ich glaube, dass Niemann öfter betrogen hat, als er zugibt – und dass dies nicht so lange her ist, wie er behauptet.» Zudem liess Carlsen verlauten, dass er nicht mehr gegen Personen spielen wolle, die in der Vergangenheit betrogen haben. Niemann hatte zugegeben, in seiner Jugend zweimal betrogen zu haben, und dies als «seinen grössten Fehler» bezeichnet. Jegliche darüber hinausgehende Vorwürfe wies er aber zurück. Der US-Amerikaner bot gar an, nackt zu spielen, weil behauptet wurde, dass er mit vibrierenden Analperlen am Brett gesessen und Carlsen so geschlagen habe.
Niemann schoss in den letzten Jahren in die Weltspitze des Schachs. Mittlerweile gehört er zu den besten 50 Spielern der Welt, seit Januar 2021 ist er zudem Grossmeister. Den Status erreichte er im Alter von 17 Jahren, was ihn im Vergleich zu einigen Konkurrenten zu einem Spätentwickler macht, wie das Wall Street Journal schreibt. Chess.com schreibt im Bericht, dass der Aufstieg Niemanns «statistisch aussergewöhnlich» sei. Einen so schnellen Aufstieg habe es in der modernen Geschichte des Schachs noch nicht gegeben.
Auffällig sei aber auch, dass sein Elo Rating innert kurzer Zeit jeweils stark anstieg, dann aber lange wieder stagnierte. Das Elo Rating wird im Schach verwendet, um die Stärke eines Spielers oder einer Spielerin zu bewerten. Im Bericht steht: «Hans hatte zwei Plateaus in seinem Rating, die untypisch sind für die Klasse der sich verbessernden Schachwunderkinder, die Elite-Grossmeister werden.»
Für Zweifel sorgte zudem, dass Niemann bei Spielen, in denen er während der Spiele zwischen verschiedenen Bildschirmen hin und her wechselte, gemäss dem Bericht deutlich besser performte, als wenn er das nicht tat. So könnte er auf einem zweiten Bildschirm von einem Schachcomputer den jeweils besten Zug aufgezeigt bekommen haben. Ein Mitarbeiter von chess.com behauptet, in mehreren Partien zwischen Juni und August 2020 unverhohlenen Betrug seitens Niemann erkannt zu haben. Dieser Mitarbeiter schreibt ausserdem, dass Niemann ihm gegenüber im August 2020 zugegeben habe, betrogen zu haben.
Doch anstatt ihn mit einem Vermerk bezüglich seines Betrugs zu versehen, liess er Niemann einen neuen Account kreieren, um seine Spiele weiterhin streamen zu können. Die Hinweise gegen Niemann verdichten sich, auch wenn sich dieser bisher nicht dazu äussert. Doch auf welchen Erkenntnissen beruht der Bericht?
«Chess.com hat das beste Betrugserkennungssystem der Welt.» Der Satz stammt von Hans Niemann selbst und ist aus diesem September. Die Online-Schach-Plattform vergleicht die Züge der Spieler mit jenen, die von Schachcomputern vorgeschlagen werden. Diese sind in der Lage, selbst die besten menschlichen Schachspieler der Geschichte zu schlagen. Liegt ein menschlicher Spieler also zu nahe an dem «perfekten Spiel», deutet dies auf Betrug hin. Ausserdem seien deutliche Leistungsunterschiede zwischen einzelnen Partien festzustellen.
Nach seinem Sieg gegen Carlsen im September sagte Niemann noch: «Ich könnte mir nicht einmal vorstellen, in einem echten Spiel zu betrügen.» Der Bericht behauptet etwas anderes. Niemann habe nämlich auch in Turnieren, in denen Geld zu gewinnen war, betrogen. Bisher hat sich der 19-Jährige noch nicht zum «Hans Report» geäussert. Der Schach-Verband FIDE hat letzte Woche zudem eigene Ermittlungen eingeleitet.