Stucki, Reichmuth und das Himmelszeichen, das die Berner zutiefst beunruhigen muss
Im Januar ist er 37 Jahre alt geworden. Bevor er 2019 den Thron besteigt, gelten zwei ungeschriebene Gesetze. Erstens: Wer einmal einen Schlussgang verloren hat, wird nie mehr König. Zweitens: Wer älter als 30 ist, auch nicht.
Christian Stucki, Schlussgangverlierer von 2013 (gegen Matthias Sempach), wird 2019 König. Im Alter von 34 Jahren.
Der Mythos Stucki ist geboren. Der König, der alle Gesetze bricht. Ein Titan. Eine Steigerung scheint nicht mehr möglich.
Und nun ist am Samstag aus dem Titanen so etwas wie eine Sagengestalt geworden.
Christian Stucki hat vor Pratteln eigentlich niemand mehr auf der Rechnung. Natürlich wird ihm allergrössten Respekt entgegengebracht. Er ist König. Aber nach seiner Thronbesteigung ist er zum Phantom geworden: Die Saison 2020 fällt wegen der Pandemie aus. In der Jahreswertung der Saison 2021 wird er nur noch als Nummer 16 geführt und 2022 gar nicht mehr. Weil er diese Saison kein einziges Fest bestreiten kann.
Wie gut ist der König noch? Eigentlich spricht alles gegen ihn. Das Alter, die zahlreichen Blessuren, die fehlende Wettkampfpraxis. Erst als er am Samstagmorgen mit den Bernern in die Arena einmarschiert, steht fest: Er wird antreten.
Und dann bettet er nacheinander Damian Ott (22), Dario Gwerder (25) und Armon Orlik (27) ins Sägemehl. Erst Pirmin Reichmuth vermag ihn zu stoppen.
Der Innerschweizer ist einer der wenigen, der Christian Stucki an Postur und Kraft ebenbürtig ist. Er hat zuvor bereits drei Berner gebodigt: Die Siege gegen Remo Käser und Ruedi Roschi müssen für einen, der König werden will, eine Selbstverständlichkeit sein. Aber im dritten Gang beschert er mit Matthias Aeschbacher einer der ganz grossen Berner Hoffnungen die erste Niederlage.
Und wir dürfen die Frage stellen: Hat mit Pirmin Reichmuth womöglich der neue den alten König besiegt?
Es wäre eine Zäsur. Die bernische Erbmonarchie mit vier Königen hintereinander seit 2010 wäre beendet. Und für die Innerschweizer wäre es erst der zweite König nach Harry Knüsel.
Noch ist Christian Stucki König. Noch können wir sein Comeback feiern. Unter dem Arbeitstitel: Wie aus einem Titanen erst ein Phantom, nun eine Sagengestalt geworden ist. Huldigen wir noch einmal dem alten König mit einem letzten Hurra. Womöglich gehören die Schlagzeilen am Sonntag dem neuen König.
Wer so wie Christian Stucki aus dem Nichts wieder auftaucht und nach dem ersten Tag noch immer im Rennen ist, ohne ein einziges Fest als Vorbereitung, ohne einen einzigen Kampf an einem Kranzfest, ist mehr Sagengestalt als einfach ein Titan. Wie der Riese Rübezahl, von der es 1783 unter anderem heisst:
Das ist die romantisch-poetische Seite. Es gibt auch eine schwingtechnische Erklärung für ein Comeback, das fast einer Halbfinalqualifikation von Roger Federer bei den Swiss Indoors 2022 gleichkommt.
Christian Stucki bringt auch mit 37 eine nahezu perfekte Mischung aus Postur (198 cm/145 kg), Kraft und Beweglichkeit in den Sägemehlring. Aber wenn der Wettkampf zwei Tage dauert, wenn die Arena fünfmal so gross ist wie bei jedem anderen Fest, wenn wochenlang alle von diesem Fest reden, wenn die TV-Kameras jeden Winkel ausleuchten – dann werden, dann entscheiden «weiche Faktoren» die harte Wirklichkeit: Erfahrung, Selbstvertrauen, Nervenkraft, Körpersprache. Die nervliche Belastung dieses Festes, das nur alle drei Jahre stattfindet, hat durchaus etwas von der Nervosität vor Olympischen Spielen.
Das ist es, was an diesem ersten Tag die Differenz zwischen dem König und einigen seiner Kronprinzen gemacht hat.
Am zweiten Tag zählen diese Faktoren noch mehr. Und dazu ist die Frage: Hat der König noch genug Energie für die explosive Kraftentfaltung? Ist da womöglich der zehn Jahre jüngere Pirmin Reichmuth im Vorteil?
Beim Eidgenössischen wird die Wahrheit des Samstags oft zum Irrtum des Sonntags. Verrückte Umstürze in der Rangliste sind eher die Regel als die Ausnahme.
Und noch etwas: Am frühen Samstagnachmittag nässt kurz nach 17.00 Uhr ein Regenschauer den Festplatz. Es ist lange, lange her, seit es zum letzten Mal beim Eidgenössischen am Samstag geregnet hat. Es war im letzten Jahrhundert. 1986 in Sitten.
Am Sonntag ist Harry Knüsel dann in Sitten König geworden. Bis heute der einzige König der Innerschweizer.
Königlicher Regen einst 1986 in Sitten. Königlicher Regen in Pratteln? Ein Himmelszeichen für die Innerschweizer?
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