Eine Zeit lang schien am ESAF in Mollis gar ein Bruderduell im Kampf um die Schlussgangteilnahme eine Option. Möglich wäre das, weil Armon und Curdin Orlik nicht den gleichen Verband vertreten. Armon tritt als Bündner schon immer für den Nordostschweizer Schwingerverband an. Der zwei Jahre ältere Curdin zog hingegen 2017 nach Bern und vertritt im Sägemehl seither den Bernisch-Kantonalen Schwingerverband. «Wir haben seinen Abgang damals zwar verstanden, aber sehr bedauert», sagt König Armon über seinen älteren Bruder.
Zwei Brüder, die im Sägemehl Gegner sind – das dürfte selbst in der 130-jährigen Geschichte des Eidgenössischen Schwingerverbands noch nicht oft vorgekommen sein. Zum letzten Mal in einem Ernstkampf gegenüber standen sich Armon und Curdin Orlik indes 2015, beim Sertigschwinget in Davos. Armon legte Curdin damals mit einer glatten Zehn auf den Rücken.
Die eidgenössische Bilanz der Orliks lässt sich sehen. Armon ist seit gestern König, hatte 2013 in Estavayer als junger Schwinger bereits den Schlussgang erreicht und besitzt mittlerweile vier eidgenössische Kränze. Curdin ist dreifacher Eidgenosse, er holte in Zug 2019, Pratteln 2022 und nun eben auch in Mollis den Kranz. In ähnlichen Sphären bewegen sich wohl nur noch die Innerschweizer Brüder Adrian, Philipp und Ivo Laimbacher, die zu dritt elf eidgenössische Kränze gewannen.
Die Familie Orlik führt in Maienfeld ein sehr katholisch geprägtes Leben. Vater Paul – einst selbst Schwinger – beschützte eine Zeit lang in der Schweizergarde in Rom Papst Johannes Paul II. Armons Bruder Curdin ist nicht nur sportlich, sondern auch musikalisch begabt, spielte während vieler Jahre die Orgel in der Kirche.
Und: Curdin ist schwul. Während vieler Jahre ringt er mit seiner Identität, will und kann sie nicht akzeptieren. Doch irgendwann hält er es nicht mehr aus, vertraut sich immer mehr Menschen in seinem Umfeld an und gibt im März 2020 in einer Geschichte im Magazin des Tages-Anzeigers sein Coming-out.
«Lieber bin ich frei als ängstlich», sagte der damals 27-Jährige. Der Schwinger suchte den Gang an die Öffentlichkeit von sich aus, sein Sportpsychologe kontaktierte den Journalisten. Er habe sich auch überlegt, in einem gewöhnlichen Interview beiläufig zu erwähnen, dass er schwul sei, so Curdin Orlik, «als wäre es das Normalste der Welt.» Doch davon sei er abgekommen, denn: «In der Welt, aus der ich komme, wird Schwulsein eben nicht als das Normalste der Welt betrachtet.»
Curdin ist seit Frühling 2016 Vater aus einer früheren Beziehung mit einer Frau und sagte, er mache das Coming-out deshalb. «Ich tue das auch für meinen Sohn, ihn will ich auf gar keinen Fall anlügen. Ich wusste schon immer, dass ich schwul bin, sicher seit ich zwölf war. Aber ich dachte: Das ist falsch, das kann nicht sein.»
Der ältere Orlik-Bruder ist einer der wenigen aktiven männlichen Spitzensportler, der seine Homosexualität öffentlich bekannt gemacht hat und der einzige Schwinger, bei dem dies der Fall ist. Auch die Schwingerszene akzeptiert den 32-Jährigen so wie er ist. «Mich hat nur positives Feedback erreicht», erklärt er rund zwei Jahre nach seinem Coming-out.
Auch von seiner Familie erfuhr Curdin viel Unterstützung und Rückhalt. Armon sagte beim Coming-out seines Bruders: «Dass sich Curdin outet, ist das Mutigste, das jemand machen kann. Ich bewundere ihn sehr dafür.»
So sehr sich die zwei Brüder auch gegenseitig unterstützen, während des Eidgenössischen wird der Kontakt jeweils auf null heruntergefahren. «Während des Schwingfestes hatten wir keinen Kontakt», meint Armon Orlik. Vor dem ersten Gang hätten sie noch gemeinsam allfällige Gegner analysiert. Und als es für Curdin plötzlich auch noch um die Qualifikation für den Schlussgang ging, hätten zwei Herzen in seiner Brust geschlagen. «Ich hätte ihm den Einzug sehr gegönnt. Ich wusste aber auch, wenn wir Nordostschweizer den König stellen wollen, brauchen wir zwei im Schlussgang», erklärt Armon.
Am Ende standen Werner Schlegel und Samuel Giger im Schlussgang – eben zwei Nordostschweizer. Die Gebrüder Orlik mussten (oder durften) zuschauen, wie die beiden stellten und so Armon den Festsieg und auch den Königstitel erbte. Der 30-Jährige ist der erste Schwingerkönig der Geschichte, der nicht im Schlussgang stand. Als es so weit war, ging auch das Kontaktverbot der zwei Brüder zu Ende.
Armon und Curdin lagen sich mit Tränen in den Augen in den Armen und feierten den nächsten Erfolg für ihre erfolgreiche und spezielle Schwingerfamilie. «Armon war sehr emotional, wir haben beide ein paar Tränen verdrückt. Er kämpft schon so lange dafür, hat dafür gelebt. Er hat den Titel einfach mega verdient», freute sich der ältere Bruder.