Als Marco Odermatt hört, wie Cyprien Sarrazin sagt, dass selbst diese Fahrt nicht perfekt war, schüttelt er leicht den Kopf. Mit 91 Hundertstel Vorsprung hat der Franzose die zweite Abfahrt in Kitzbühel gewonnen und damit das Double geschafft. Und wenn nun diese Leistung noch immer nicht das Maximum des Möglichen war, wo soll denn das noch hinführen?
Im Skiweltcup sind sich viele einig: Das, was Sarrazin am Samstag auf der Streif zeigte, war eine der besten Fahrten, die man in Kitzbühel je gesehen hat. Der Franzose selbst gab immerhin zu, dass es nahe an der Perfektion war. Aber eben: Wo ist das Limit, wenn einer endlich an sich selbst glaubt?
Sarrazin ist schon lange im Weltcup dabei. Im Februar 2016 debütierte er in Chamonix. Der 29-Jährige spezialisierte sich auf den Riesenslalom. Obwohl spezialisieren nicht unbedingt das richtige Wort ist. Sarrazin bestritt zwischen 2016 und 2023 42 Riesenslaloms. 13-mal schied er aus. 15-mal verpasste er den zweiten Lauf. Einmal war er Zweiter. In Alta Badia 2019. Warum genau, das kann er bis heute nicht einmal selbst erklären.
Im Sommer 2022 stellte sich Sarrazin die Sinnfrage und erhielt als Antwort: Vielleicht bin ich ja ein Speedfahrer? Mit den französischen Abfahrern reiste er nach Chile. Mit 28 Jahren fuhr er seine erste Abfahrt. Trainingshalber. Es gibt die Geschichte aus dem französischen Team, dass einige ziemlich Bammel hatten. Ausgerechnet Sarrazin, der Sturzpilot.
Sarrazin aber war schnell. So schnell, dass er sich tatsächlich entschied, auf die Abfahrt zu setzen. Im Dezember 2022 debütierte er in Beaver Creek im Weltcup und fuhr auf Rang 39. Zwei Abfahrten später, noch immer im Dezember, war er in Gröden Sechster. Dann aber schied er in Wengen aus, eine Woche später auch in Kitzbühel. Da war er wieder, der Sturzpilot.
Weil Sarrazin in der gleichen Saison auch im Super-G dreimal stürzte, sagt Odermatt: «Gefühlt lag er nur in den Netzen.» Odermatt sagt aber auch, dass er geahnt habe, dass Sarrazin richtig schnell werden könnte, wenn er stabiler wird. Er sah Parallelen zu sich selbst, was den Fahrstil betrifft.
Ende Januar 2023 verletzte sich Sarrazin bei einem Sturz am Rücken und verpasste die Heim-Weltmeisterschaften in Courchevel. Es war der Moment, der die Wende brachte. Sarrazin sass zu Hause auf dem Sofa und schaute seinen Kollegen zu. Er dachte sich, erzählt er der «NZZ»: «Ich will mir nicht mehr Angst machen. Nicht mehr weh machen. Ich will, dass es mir gut geht.» Er entschied sich, eine Psychologin aufzusuchen. Die Aufgabe: die Selbstzweifel lösen. Die Diagnose: Hochstapler-Syndrom.
Menschen, die daran leiden, können – kurz gesagt – ihre Leistungen nicht einordnen. Sie glauben, dass diese auf Zufall beruhen und sie früher oder später als Hochstapler entlarvt würden. Der «Kleinen Zeitung» sagte Sarrazin: «Ich war mir nie sicher, ob ich es verdiene, vorne zu sein. Da dachte ich mir oft: Bleib lieber, wo du bist.» Die Psychologin half ihm. Drei Tage vor der Abfahrt in Bormio machte es Klick. «Mir war auf einmal klar: Du kannst gewinnen, du bist am richtigen Platz», erzählt er in Kitzbühel.
Sarrazin gewann. Neun Hundertstel vor Odermatt. Das alles ist noch nicht einmal einen Monat her. Seither war er in Wengen in beiden Abfahrten Zweiter und gewann den Super-G. Und nun in Kitzbühel also das Double. Er sagt: «Mir fehlen die Worte.» Odermatt schüttelte ungläubig den Kopf.
In der Gesamtwertung der Abfahrt liegt Odermatt nur noch sechs Punkte vor Sarrazin. Dominik Paris auf Rang drei liegt schon fast 200 Punkte zurück. Das Duell der beiden Supertechniker elektrisiert die Skiwelt. Und man vergisst: Sarrazin hat erst 14 Weltcupabfahrten bestritten, Odermatt in Wengen seine erste Weltcupabfahrt gewonnen. Trotzdem fahren die beiden derzeit in einer eigenen Liga. Odermatt sagt: «Cyprien bringt alles mit. Er ist ein cooler Typ, fährt cool Ski, riskiert viel. Das ist das, was die Leute sehen wollen. Wir sind uns relativ ähnlich und verstehen uns gut.»
Man kann es auch anders sagen: Die beiden revolutionieren mit ihrem Fahrstil die Abfahrt. Man darf sich auf die kommenden Duelle freuen.