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Michelle Gisin spricht im Interview über die Coronavirus-Krise

ARCHIVBILD ZUM VORZEITIGEN SAISONENDE VON MICHELLE GISIN, AM MONTAG, 28. JANUAR 2019 - Michelle Gisin waehrend einer Medienkonferenz anlaesslich einer Werbewoche von Swiss Ski bei Brack.ch in Willisau ...
Michelle Gisins Sommerpläne sind wegen des Coronavirus durcheinander gewirbelt worden. Bild: KEYSTONE

Michelle Gisin über die Corona-Krise: «Lag die ersten 24 Stunden genervt im Bett»

Skifahrerin Michelle Gisin rechnet nicht damit, dass die nächste Weltcup-Saison wie geplant stattfinden kann.
06.05.2020, 16:43
claudio zanini / ch media
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Nach einer normalen Skisaison würde Michelle Gisin, 26, Material testen, Techniktrainings absolvieren, zu Hause in Engelberg so lange wie möglich Skifahren – und sich Ferien gönnen. In diesem Frühling wäre sie mit ihrem Freund Luca De Aliprandini, dem italienischen Riesenslalom-Spezialist, für zwei Wochen nach Sardinien gereist. Leider sind Reisepläne furchtbar absurd geworden.

Seit Ende März ist Gisin zu Hause. Sie macht Konditionstraining, Yoga, liest Bücher en masse und backt. Während des Telefoninterviews knetet sie einen Teig.

Was haben Sie vor mit diesem Teig?
Michelle Gisin: Das gibt einen Nussstollen.

Mit Milch, Butter und Ei? Oder eine weniger reichhaltige Sportlerversion?
Mit allem, auch Zucker. Ich nehme aber Dinkelmehl. Vor einigen Jahren entwickelte ich eine Glutenintoleranz. Inzwischen hat es sich zum Glück so weit gebessert, dass ich Dinkel wieder vertrage.

In diesen Tagen ist viel über Ernährung während der Quarantänezeit zu lesen. Essen Sie mehr, seit Sie nur noch zu Hause sind?
Im Moment könnte ich andauernd essen, ich habe solchen Hunger (lacht). In der Trainingsphase, in der ich mich befinde, ist das zum Glück okay. Schwieriger sind die Ruhetage, weil der Hunger gleich gross bleibt, ich mich aber um einiges weniger bewege. Wichtig ist, im richtigen Moment das Richtige zu essen. Manchmal sehen wir Sportler das Essen als reine Energiezufuhr, da muss man ab und zu auch ein Stück Nussstollen essen.

Normalerweise hätten Sie jetzt Zeit, um Ihren Freund zu sehen. Nun ist er zu Hause in Italien. Wie sehr schmerzt die Distanz?
Die ersten 24 Stunden nach dem Lockdown lag ich deswegen genervt im Bett. Ich kam am Donnerstagabend von Are nach Hause, am Freitag gingen die Grenzen zu. Während der Saison sah ich ihn zusammengezählt vielleicht acht Tage. In dieser Zeit habe ich ihm drei- bis viermal diesen Nussstollen gebacken (lacht). Er liebt ihn. Backen oder Yoga helfen mir aktuell sehr, mich abzulenken.

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Die FIS hoffte lange auf eine Durchführung des Weltcup-Finals Ende März. Wann realisierten Sie persönlich, wie ernst die Lage tatsächlich war?
Es war eine spezielle Situation. Wir reisten eine Woche vor dem Weltcup-Final ganz gewöhnlich nach Are, obwohl wir schon grosse Zweifel hatten, dass die Rennen stattfinden. Einige Wochen zuvor fuhren wir noch in Crans-Montana, vor tausenden Zuschauern, da war Corona noch sehr weit weg. Nach Crans gingen wir nach La Thuile, dort wurden wir bereits ein bisschen abgeschottet. In Are erkrankte dann eine Person eines Weltcup-Partners. Danach kippte die ganze Situation. Für uns alle ein extremer Wechsel innert kürzester Zeit.

«Den Podestplatz im Slalom von Lienz würde ich als Höhepunkt bezeichnen.»
Michelle Gisin

Marco Odermatt vermutet, Corona könnte den Skisport nachhaltig verändern, die Schere zwischen arm und reich könnte noch weiter aufgehen. Wie sehen Sie das?
Das ist die grosse Frage. In der Rezession werden wahrscheinlich bei allen Firmen die Budgets für Sponsorings als Erstes gekürzt. Ich persönlich bin in einer sehr privilegierten Lage. Fahrerinnen und Fahrer in den Top 10 müssen sich keine allzu grossen Sorgen machen. Schwieriger ist es für Athleten in den Rängen 15 bis 45. Es wird generell zu wenig wertgeschätzt, was sie leisten. Und es ist enorm viel. Ich glaube, es können wenige von uns behaupten, dass sie in ihrem Beruf zu den 45 besten der Welt gehören.

Sie wollten in der vergangenen Saison zu den Allerbesten gehören. Im Herbst sprachen Sie vom Sieg im Abfahrtsweltcup und davon, Mikaela Shiffrin in der Gesamtwertung zu kitzeln. Das wurde Ihnen später um die Ohren gehauen.
Damit musst du umgehen können. Ich musste mich auf ein solches Szenario einstellen, als ich die Ziele formulierte. Und natürlich kann man mich an dem aufhängen, die Saison lief auf der Speedseite überhaupt nicht wie gewünscht. Dies zu verstehen, war nicht einfach. Ich kam zum ersten Mal aus einer Verletzung in den Winter. Der Lernfaktor war aber sehr gross. In den technischen Disziplinen lief es besser, den Podestplatz im Slalom von Lienz würde ich als Höhepunkt bezeichnen.

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In Lienz holte Michelle Gisin ihren ersten Slalom-Podestplatz im Weltcup.Bild: EPA

Und der Tiefpunkt war wohl Garmisch, als Sie im Zielraum einen Zusammenbruch hatten und minutenlang weinten.
Es war schwierig für mich zu verstehen, weshalb kaum mehr etwas klappte in der Abfahrt. Der Frust war gross. Ich wollte unbedingt Gas geben, kam aber nicht vom Fleck. Im Vorjahr hatte ich mich in Garmisch im Super-G verletzt. Für den weiteren Saisonverlauf war es enorm wichtig, dass ich tags darauf einen tollen Super-G zeigen konnte.

«Ich gehe nicht davon aus, dass die nächste Saison normal stattfinden kann.»
Michelle Gisin

Normalerweise nerven sich Skifahrer, wenn man sie fragt, was sie im Sommer tun.
Komisch.

Aber jetzt ist die Frage berechtigt, nicht?
Ja, in diesem Jahr ist sie berechtigt. Ich gehe nicht davon aus, dass die nächste Saison normal stattfinden kann. Dass wir im November bereits wieder nach Nordamerika fliegen, ist aktuell schwer vorstellbar. Wir werden ein ganz anderes Sommertraining haben, das Südamerika-Training wird nicht stattfinden. Wir haben aber zum Glück in der Schweiz mit Saas-Fee und Zermatt zwei super Orte, wo wir auf dem Gletscher trainieren könnten.

Schweiz statt Südamerika
Nach der Niederlage im Nationencup scheinen die Österreicher besonders motiviert zu sein. Ein Teil des Männerteams trainiert bereits in dieser Woche wieder auf dem Gletscher von Sölden – in kleinen Gruppen und unter Einhaltung der Hygiene-Regeln. Weniger forsch ist der Zeitplan der Schweizer. Swiss Ski plant, erst im Juli wieder Schneetrainings zu veranstalten. An Materialtests ist aktuell ohnehin nicht zu denken. Wie Alpin-Direktor Walter Reusser sagte, sind die Skifirmen wegen Corona zum Teil geschlossen oder laufen auf Sparflamme. Anstatt im Herbst nach Südamerika ins Trainingscamp zu reisen, bleiben die Schweizer bewusst zu Hause. Laut Reusser wolle man so in den heimischen Skigebieten Wertschöpfung generieren. (cza)

Wie sieht denn Ihr Sommertraining aus?
Momentan bin ich mitten in einem ersten Konditionstrainings-Block. Das findet wohl bei den meisten mehr oder weniger wie geplant statt. Danach werden wir sehen, wie es weitergeht.

Was hätten Sie in einem normalen Winter zwischen Saisonende und Anfang Mai gemacht?
Wir hätten Skitests gemacht, Techniktraining, ich wäre in Engelberg so lange wie möglich Skifahren gegangen. Zudem wollten Luca und ich zwei Wochen Ferien auf Sardinien machen.

Haben Sie Angst, sich in der Lockdownphase einen Trainingsrückstand einzuhandeln?
Einen Rückstand auf wen denn? Es geht ja allen gleich. Deshalb erwarte ich auch eine sehr spannende Saison.

Die Legende besagt, dass Sie schon in der Primarschule Bücher am Laufmeter verschlungen haben. Was lesen Sie aktuell?
Mehrere Sachen. Was ich empfehlen kann, ist «The Science Of Interstellar», das Buch erklärt die physikalischen Prinzipien, denen der Film «Interstellar» zugrunde liegt. Kip Thorne, Nobelpreisträger in Physik, erklärt alles sehr anschaulich. Dann lohnt es sich noch mehr, den Film anzuschauen.

Das heisst, Sie haben heute einen Pausentag, wenn Sie lesen und backen.
Ja, heute habe ich keine Verpflichtungen. Ausser einen anständigen Nussstollen zu machen. Ich übe, dass ich ihn in Perfektion kann, wenn ich Luca wiedersehe.

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