Sie träumten davon, dereinst wie Lara Gut-Behrami oder Michelle Gisin im Weltcup zu starten, die Schweiz an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zu vertreten. Neun Juniorinnen, alle im Alter von 16 bis 18 Jahren, die in einem der zwölf Regionalverbände von Swiss Ski trainierten und daneben ein Sportgymnasium besuchten.
Für keine von ihnen ist der Traum in Erfüllung gegangen. Nur drei sind heute noch aktiv. Die anderen haben sich vom Sport abgewendet. Zwei leiden an Magersucht, andere an Panikattacken und Angststörungen. Was sie erlebt haben, begleitet die jungen Frauen auch Jahre später.
Ihre Leidenszeit beginnt im September 2019, als ein Cheftrainer aus Italien die Gruppe junger Frauen übernimmt. Ein Südtiroler, der während fast eines Jahrzehnts dem italienischen Abfahrtsteam angehörte, Ende der 90er-Jahre zwei Mal bei der Lauberhorn-Abfahrt startete, sich im Weltcup aber nicht etablieren konnte. Seit seinem Rücktritt arbeitete er als Trainer verschiedener Altersgruppen, hauptsächlich von jungen Frauen.
Schon kurz nach seinem Stellenantritt kommt es zu ersten Spannungen. «Der Anfang war schwer», schreibt der Trainer in seiner Jahresbilanz. Es gebe unterschiedliche Meinungen in Bezug auf Umgang und Wortwahl. Deswegen mache er nur noch Einzelsitzungen, «um mit den Damen klar zu kommen, damit sie mich verstehen und kennen lernen».
Die jungen Frauen lernen den heute 52-Jährigen kennen: Schreie auf der Piste, Drohungen im Trainingslager, Demütigungen in Sitzungen. Wer sich wehrt, läuft Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Eine Athletin berichtet, der Trainer habe ihr gesagt, «es passiere etwas Schlimmes», wenn sie sich nochmals über ihn beschwere.
Die Machtverhältnisse sind eindeutig: ein damals 50-Jähriger, geschützt vom Präsidenten des Regionalverbands, gegenüber Minderjährigen, die von ihm abhängig sind. Eine Athletin beschreibt ein «Klima der Angst». Niemand habe sich getraut, etwas zu sagen.
Hinzu kommen sexualisierte Grenzverletzungen. Wiederholt soll der Trainer junge Frauen am Oberschenkel oder an der Hüfte berührt haben – angeblich, um sie aufzuwärmen. Er klopfte mit der Hand oder gar mit einem Schraubenzieher auf das Gesäss, zog an Haaren, brachte eine Athletin in gebückte Position und tat so, als würde er sie schlagen.
Während eines Trainingslagers in Italien liess er die jungen Frauen Eisbäder nehmen und schaute ihnen vom Liegestuhl aus beim Duschen zu.
Auch Bemerkungen über Körper und Figur gehörten zum Alltag. «Hast du abgenommen, oder ist dein Arsch kleiner geworden?», soll er gefragt haben. Er bestreitet das nicht. Allerdings habe er nicht Arsch gesagt, sondern Hintern.
Zu einer anderen jungen Frau soll er gesagt haben: «Geh doch nach Hause an die Brust von deiner Mami.» Später erklärte er, er habe diesen Satz bewusst und provokativ gesagt, um die Eltern auf die Essstörung aufmerksam zu machen. Dafür könne er sich auf die Schulter klopfen.
Auch intimste Bereiche des Privatlebens blieben kein Tabu. «Hast du mit deinem Freund geschlafen?», fragte er eine Athletin nach dem Training. Eine andere musste sich anhören, sie wolle nur zu ihrem Freund, «um dreckige Dinge zu machen». Ende eines Trainingslagers soll er gesagt haben: «Frauen nach vorne auf die Knie, wie es sich gehört.»
Eine Anzüglichkeit bleibt besonders haften. «Jetzt müsst ihr die Beine spreizen, das macht ihr ja sonst nie», habe er zu den Mädchen gesagt. Stimmt nicht, behauptet der Italiener in einer Befragung. Tatsächlich habe er gesagt: «Macht die Beine breit, damit ich sitzen und fahren kann.»
Obwohl sich die Vorfälle über Jahre ereignen, geschieht lange nichts. Erst im Juni 2023 geht bei Swiss Sport Integrity eine Meldung einer Athletin ein. Die Vorwürfe: Machtmissbrauch, Drohungen, Erniedrigungen, sexistische Bemerkungen, unangemessene Berührungen.
Swiss Sport Integrity (SSI) reagiert sofort, verhängt eine vorsorgliche Massnahme und untersagt dem Cheftrainer, allein mit Athletinnen unterwegs zu sein. Und doch macht der Beschuldigte zunächst weiter: Im September 2023 meldet sich eine zweite Athletin erneut: Alles werde vertuscht, die Trainer würden laut werden und erklären, «es sei nichts».
Auch der Regionalverband spielt eine zweifelhafte Rolle. Zwar führt er eine anonyme Umfrage durch, als die Beschwerden an ihn herangetragen werden. Sechs von neun Familien nehmen daran teil. Sie bemängeln die Kommunikation, sexistisches Verhalten und ein «Klima der Angst». Es kommt zu einer Aussprache, doch der Trainer bleibt weiter im Amt.
Während eines Telefonats mit Swiss Sport Integrity räumt der Präsident des Verbandes die Probleme ein. Die Umfrage und die Aussprache hätten Besserung gebracht, teilt er mit. Als sich der Präsident später schriftlich äussert, schreibt er indessen, der Vorstand habe «ein anderes Bild der Situation».
Dennoch finden die jungen Frauen nun endlich Gehör.
Nach einem dreistündigen Verhör durch Swiss Sport Integrity, das er später als «terrorisierend» bezeichnet, lässt sich der Trainer im Oktober 2023 krank schreiben. Sein Zustand sei kritisch, meldet sein Arzt. Er leide unter einer akuten Belastungsstörung, einer posttraumatischen Belastungsstörung, kombiniert mit Erschöpfungssyndrom.
Die Verteidigungsstrategie des Trainers folgt stets demselben Muster: Bestreiten, Relativieren, Uminterpretieren. So erklärte er, beim Beobachten der Athletinnen in Sauna und Dusche habe es sich um eine Aufsichtspflicht gehandelt, damit niemand im Eiswasser kollabiere – oder um eine Kontrolle, ob jemand an Essstörungen leide. Das Anfassen an Hüften und Oberschenkeln sei Teil des Aufwärmens gewesen.
Der schlimmste Vorfall ereignet sich in einer Skihalle im Ausland. Nach einem Trainingslauf habe der Trainer der Athletin zeigen wollen, dass sie «hohe Hüften» haben müsse. Dabei sei er ihr mit der Hand von hinten zwischen die Beine gefahren und habe sie während zirka 15 Sekunden hochgehoben. Er habe sie nicht gefragt, sondern sei einfach mit der Hand in den Schritt gegangen. Später will er sich nicht mehr daran erinnern.
Eine andere Athletin beschreibt, wie er sie während eines Teamtages mit einer Zange in der Hand in gebückte Haltung zwang und andeutete, ihr auf das Gesäss zu schlagen. Wiederholt seien herabwürdigende Kommentare gefallen wie «bist du eigentlich geistig behindert?», oder «das Einzige, was Schmerzen verursacht, ist ein Kind auf die Welt zu bringen».
Die Untersuchung ist langwierig und umfassend. Befragt werden acht junge Frauen, teilweise zusammen mit ihren Müttern. Einige weinen während der Gespräche heftig, andere beschreiben Panikattacken oder Albträume, die sie bis heute quälen. Die Aussagen sind detailliert, decken sich in zentralen Punkten und wirken nicht abgesprochen, weswegen ihnen das Gericht hohe Glaubwürdigkeit attestiert.
Anders der Cheftrainer. Seine «massive Fehleinschätzung» der eigenen Handlungen sei verstörend. Er halte es nicht für ethisches Fehlverhalten, junge Frauen gegen ihren ausdrücklichen Willen zu berühren, sie an den Haaren zu ziehen, oder auf den Po zu schlagen. Seine Aussagen bewerten die Richter als widersprüchlich und unglaubwürdig.
Im Frühling fällte das Sportgericht sein Urteil: Der Beschuldigte darf während fünf Jahren keine Nachwuchssportler betreuen, und wird zu einem Coaching von mindestens 25 Stunden zu psychischer und sexueller Gewalt sowie Ethik im Umgang mit Minderjährigen verpflichtet. Dazu trägt der Italiener die Verfahrenskosten über 3000 Franken.
Der 52-jährige Italiener ist inzwischen in seine Heimat zurückgekehrt, wo er als Handwerker arbeitet, und ein unbescholtenes Leben führt, umgeben von saftig grünen Wiesen und den mächtigen Gipfeln der Dolomiten.
Der Präsident des betroffenen Regionalverbands hat sein Amt vor wenigen Wochen unter tosendem Applaus niedergelegt, nachdem er die maximale Amtsdauer erreicht hatte. Er wurde zum Ehrenpräsidenten ernannt.
Für die betroffenen jungen Frauen ist das Urteil ein später, aber wichtiger Schritt. Es bestätigt, was sie über Jahre erlebt haben. Die meisten haben den Sport verlassen, viele kämpfen bis heute mit den Folgen des Erlebten.
Ihre Träume von Olympischen Spielen und Weltcup-Podesten sind zerstört. (aargauerzeitung.ch)
Menschen, welche sich dann auch noch auf die Seite dieser stellen und diese in Schutz nehmen, gehören auch gleich abgestraft.