Das Head-to-Head spricht eine deutliche Sprache: 18:3 führt Roger Federer in den Direktbegegnungen gegen Stan Wawrinka. Doch die Bilanz täuscht: Der Romand wurde im Duell mit seinem Olympiagold-Partner von 2008 oft unter Wert geschlagen, weil ihm in den wichtigen Momenten die Nerven versagten – Stichwort Stockholm 2010 oder London 2014. Spätestens seit Wawrinkas Viertelfinal-Erfolg beim French Open 2015 begegnen sich die beiden aber mindestens auf Augenhöhe.
Der Weg zum Erfolg könnte unterschiedlicher nicht sein, schliesslich haben beide ihre Stärken und Schwächen. Und genau die gilt es auszuspielen oder auszunutzen.
Beim Aufschlag hat Federer im Vergleich mit Wawrinka leichte Vorteile, beim ersten wie beim zweiten. Wichtig ist, dass er eine möglichst hohe Quote ins Feld bringt. Der «Maestro» wird so nicht unnötig in lange Ballwechsel gezwungen und kann sich dank vieler «Gratispunkte» mehr auf die Return-Games konzentrieren.
Bei Rallys über vier oder mehr Schläge ist Federer klar im Nachteil, Wawrinka bei den monotonen Ballwechseln von der Grundlinie einfach zu stark. Die Vielseitigkeit ist aber Federers grösste Stärke: Mit seinen Tempo-, Taktik- und Rhythmus-Wechseln ist er aber für jeden Gegner äusserst unangenehm zu spielen – auch für Wawrinka.
Wie fehleranfällig ist Federer auf der Rückhandseite? Zu Beginn gegen Jürgen Melzer und Noah Rubin hatte er noch so seine Probleme, gegen Tomas Berdych und Kei Nishikori funktionierte seine Schwachstelle aber bereits wieder blendend: Er schlug Winner um Winner. Gegen Wawrinka muss er das wieder tun – oder wenigstens konstant dagegen halten können.
Um seine Fitness stand vor dem Turnier ein grosses Fragezeichen, doch mittlerweile schwärmen wieder alle: «Roger scheint fast über den Platz zu fliegen», staunen Gegner und Experten gleichermassen. Erst seine überragende Beinarbeit lässt ihn die Zauberschläge aus den unmöglichsten Positionen schlagen. Der «Maestro» lässt selbst die anstrengendsten Rallys so aussehen, als wären sie das Selbstverständlichste auf der Welt, was seine Gegner natürlich zum Grübeln bringt.
Der Platz in der Rod-Laver-Arena ist schneller als in den vergangenen Jahren, das kommt Federers offensivem Spiel entgegen. Er wird deshalb versuchen, so oft wie möglich ans Netz zu gehen. Um dort erfolgreich zu sein, muss beim Angriffsball das Timing stimmen. Der «Maestro» muss geduldig sein und nicht auf Teufel komm raus nach vorne rennen, sonst wird er von Wawrinka regelrecht zerpflückt.
Der Kopf ist bei Wawrinka die halbe Miete. Zu Beginn des Turniers wirkte sich die Unsicherheit über den eigenen Formstand mal wieder 1:1 auf sein Spiel aus. In der 1. Runde gegen Martin Klizan lief noch nicht viel zusammen, doch seit dem Fünfsatzsieg gegen den Slowaken hat er sich kontinuierlich gesteigert und sich wie schon bei seinen drei Grand-Slam-Siegen in einen wahren Rausch gespielt. Dank seiner Erfahrung weiss er mittlerweile: So kann ihn niemand stoppen.
Federer hat einen der effektivsten Aufschläge auf der Tour.
Wawrinkas Returns müssen also sitzen, wenn er gegen seinen Kumpel ins Spiel kommen will. Der Romand neigt dazu, sich weiter hinter die Grundlinie zurückfallen zu lassen, wenn er sich als Rückschläger unsicher fühlt. Eigentlich kein Problem, so lange er den nötigen Druck ausüben kann und den zweiten Aufschlag des «Maestros» konsequent angreift.
Ob mit der Vorhand oder mit der Rückhand: Keiner schlägt die Bälle von der Grundlinie derzeit härter als «Stan the Man».
Wawrinka ist in den letzten zwei Jahren so zu einer wahren Winner-Maschine geworden – egal, ob mit Vor- oder Rückhand. 243 Gewinnschläge hat er in fünf Matches ins Feld gedonnert.
Power allein reicht nicht: Um Federer von der Grundlinie weg in die Defensive zu ballern, muss Wawrinka präzise spielen wie ein Schweizer Uhrwerk. Zu Beginn des Turniers hatte er noch etliche Mühe, die Linien zu treffen. Gegen Tsonga war im Viertelfinal aber kein Zögern mehr zu erkennen. Weil er das Vertrauen in seine Schläge gefunden hat, ging er mehr Risiken ein und wurde belohnt.
Schon oft hat Wawrinka Federer in einer Partie dominiert, zumindest eine Zeit lang. Manchmal über eine Stunde, aber irgendwann kam beim Romand die Schwächephase und die nützte Federer jeweils eiskalt aus. Für Wawrinka wird entscheidend sein, dass er nie nachlässt, Federer ständig unter Druck setzt und ihn im Stile eines Djokovic oder Nadal nicht mehr aus seinem Würgegriff lässt.