Das Jahr der grossen Befreiung ist bislang eher ein Krampf für Daria Kasatkina. Die gebürtige Russin und Putin-Kritikerin konnte sich in diesem Jahr von ihrem Mutterland lösen und vertritt seit einigen Monaten Australien auf der Tennis-Weltbühne. Mit bescheidenem Erfolg: Erstrunden-Out in Abu Dhabi, Dubai, Miami, Rom, Strassburg und London, Zweitrunden-Out in Brisbane, Indian Wells, Charleston und Madrid. Einzig an den Grand-Slam-Turnieren schien es besser zu funktionieren, Kasatkina erreichte am Australian Open und am French Open die Achtelfinals.
Den Grund machte sie nun in einem Gespräch mit ihrer guten Freundin Arina Rodionova öffentlich. Mit der Abnabelung von Russland hat Kasatkina auch noch andere alte Zöpfe abgeschnitten. Seither besteht ihr Team nur noch aus Trainer Flavio Cipolla, Bruder und Fitnesstrainer Sergei sowie ihrer Verlobten Natalja Sabijako.
«Es geht nun nicht mehr darum, nicht bestraft zu werden», sagt Kasatkina und erklärt diesen Gedankengang. In den ersten neun Monaten ihrer professionellen Karriere sei sie von sehr «penetranten Menschen» umgeben gewesen. «Wenn ich verloren habe, wusste ich, dass ich nun zwei Stunden lang hören werde, wie schlecht und negativ alles war», erzählt die 28-Jährige. Wenn man dann in einem Spiel hinten liege und wisse, was bei einer Niederlage auf einen wartet, dann schalte man automatisch noch einige Prozente hoch.
In den letzten paar Monaten habe sie sich hingegen gefühlt wie ein Tier, das freigelassen wird, aber dann gar nicht wisse, was es nun tun soll. «Mir wurde immer gesagt, was ich tun sollte und wie ich es tun sollte.» Sie fühle sich mittlerweile zwar sicher in ihrem Umfeld, dafür müsse sie den Drive und die Motivation nun selbst finden. Der Weltnummer 16 sei natürlich bewusst, dass die aktuelle Situation viel gesünder sei. «Wenn ich noch länger mit der Straf-Mentalität gespielt hätte, wäre ich wohl in einer Klinik gelandet.»
Ihre Kollegin Rodionova wirft zudem ein, dass im Tennis die negativen Emotionen oft viel stärker sind als die positiven und es oft schwierig sei, motiviert zu bleiben. «Wir können die Siege selten richtig feiern, weil immer gleich das nächste Spiel ansteht», sagt die 35-jährige Russin, die schon seit 2014 für Australien spielt. Mit etwas Glück gewinne man einen Titel pro Saison. Nur die allerbesten Spielerinnen und Spieler können gleich mehrere Titel in einem Jahr bejubeln. «Und auch dann musst du immer sofort weiterreisen, ans nächste Turnier. Du kannst fast nie absitzen und den Erfolg geniessen», so Radionova.
Kasatkina betont, dass sie kein Problem damit habe, hart zu arbeiten: «Ich gehe ohne Probleme ins Training, das macht mir Spass, dort frei aufzuspielen.» Aber auf dem Court, im Abnützungskampf mit anderen Spielerinnen, brauche es immer 100 Prozent, und das sei nicht einfach, diese in jedem einzelnen Spiel zu finden. Rodionova stimmt Kasatkina zu und ergänzt: «Wenn du nicht die ultimative Gewinnen-oder-sterben-Mentalität hast, verlierst du.» (abu)