Er ist der Grund, dass sogar Leichtathletik-Dilettanten mitreden können. Seinetwegen wagen sie gar Prognosen für die Sprintwettbewerbe bei Olympia. «Usain Bolt wird es machen», sagen sie dann stolz, «in allen Wettbewerben», schieben sie nach. Und so ist es dann halt. Da können im Voraus noch so viele Zweifel angebracht werden, Bolt macht es immer. Dieser 29-jährige Jamaikaner, der die Szene seit Jahren mit schnellen Sprints und inszenierenden Faxen unterhält, ist das, was er selbst gerne unterstreicht: der Grösste.
Schlagen kann nur er sich. Wie damals vor fünf Jahren, als er wegen eines Fehlstarts vom WM-Final über 100 Meter disqualifiziert wurde. Um Bolt zu stürzen, benötigt es eben schlicht Ausserordentliches. Einen Segway zum Beispiel. Im vergangenen Sommer kollidierte Bolt mit so einem Gefährt.
In der Nacht auf heute war Bolt wieder auf der Tartanbahn zugegen. Für den Auftritt im Halbfinal über 200 Meter, in welchem er sich locker für den Final qualifizierte. Und wenn der Final-Lauf in Rio frei von Anomalien in Form von Segway-Crashs, Fehlstarts oder verknoteten Schnürsenkeln bleibt, so ist sie präsenter denn je: Bolts Operation 18.99.
In Rio nämlich wird Bolt ein letztes Mal auf der olympischen Bühne unterhalten. Das Thema Karrierenende ist omnipräsent. Auch deshalb plant Bolt, der Entertainer, sein Schlussbouquet. Dass er in Rio das dreifache Triple (zum dritten Mal Gold über 100 Meter, 200 Meter und in der 4-x-100-m-Staffel) holt, gehört schon zum Selbstverständnis. Schliesslich, so sagt der Jamaikaner, sei er ja nach Rio gekommen, um sich noch einmal abzuheben. Bolt meint damit nicht nur seine Konkurrenten aus der Gegenwart, sondern auch jene aus der Zukunft.
In der Nacht auf Freitag steht der Final über 200 Meter an. Nach diesem soll neben der 1 im Klassement auch eine Laufzeit von höchstens 18.99 Sekunden aufleuchten. Bolt will als erster Mensch unter die magische Marke von 19 Sekunden, den nächsten Schritt in eine neue Zeitrechnung machen.
Bolts bisheriger Weltrekord liegt bei 19.19 Sekunden. 2009 war das, als er an den Weltmeisterschaften in Berlin innert kurzer Zeit neue Bestmarken über 100 und 200 Meter setzte. Damals, da war der Superheld noch unverbraucht, auch weniger anfällig für Verletzungen. 2016, sieben Jahre später, ist das anders. Physische Beeinträchtigungen schlugen sich auch schon in der Leistungskurve nieder. Die schnellste Zeit, die Bolt in diesem Jahr über 200 Meter lief, waren 19.89 Sekunden, ein perfektes Jahr war es für Bolt bisher noch nicht.
Auch wenn er noch immer in einer eigenen Liga sprintet, die Skepsis, ein weiteres Mal Undenkbares zu verwirklichen, ist da. Nicht bei Bolt. Sondern bei den Zahlen-Puristen, die auf die mageren Resultate in diesem Jahr verweisen. Bolt entgegnet, dass er besser in Form ist als letzte Saison. Und dank des guten Trainings vor allem schneller. Dazu kommt, dass es niemand so sehr beherrscht, sich auf diesen einen Tag der Entscheidung zu fokussieren wie Bolt.
Noch immer ist der 29-Jährige ein Meister im Zelebrieren seiner Visionen, wenn er sagt, dass Weltrekorde da seien, um gebrochen zu werden. Die Operation 18.99 soll gelingen. Unbedingt. «Wenn ich einen guten Schlaf finde, kann ich es vielleicht schaffen», meint Bolt dazu.
Freilich ist aber nicht nur die nächtliche Ruhe von Belang. Während dieser 200 Meter, die Bolts Legendenstatus manifestieren sollen, muss alles passen: der Start, die Kurve, der Finish.
Er, der 1.95 Meter grosse Athlet, der immerhin 95 Kilogramm in Bewegung setzt, muss bereits am Start Explosivität beweisen, die Reaktionszeit möglichst tief halten. Dann muss die Kurve, von der aus die Athleten starten, unter zehn Sekunden passiert werden. Entscheidend ist dabei die Bahn. Lucio di Tizio, Sprinttrainer im Leichtathletik-Club Zürich, erklärt, dass Bahn Nummer acht für Bolt ideal wäre. «Weil dort der zu laufende Radius zwar grösser ist, man aber dafür weniger Energie im Ringen mit der Zentrifugalkraft verbraucht.»
Bolt ebenso begünstigen würde Bahn sechs. «Weil die Konkurrenznähe pushen kann. Will der Jamaikaner aber wirklich unter die 19-Sekunden-Marke, wäre die Konkurrenz bereits nach 50 Metern nicht mehr in seinem Blickfeld», erklärt di Tizio. 0.12 Sekunden seien auf den 200 Metern zudem einsparbar, wenn der Rückenwind stimme. Von Idealbedingungen ist hier die Rede, die Bolt wohl so nicht vorfinden wird.
Der Jamaikaner aber hat sich auf das Beeinflussbare zu besinnen. Während seines Rekordlaufs muss er auf das verzichten, was er so liebt: das Flirten mit dem Publikum. Für den Lauf seines Lebens dürfen die letzten zehn Meter für einmal kein Genuss sein. Bolt weiss das. Im 100-Meter-Final siegte er bereits. Überlegen wie immer.
Das macht ihn zum ersten Menschen, der das dreimal an Olympischen Spielen vollbracht hat. Unsterblich ist er längst. Was ihn reizt, sind Rekorde. Als erster Mensch die 200 Meter unter 19 Sekunden zu laufen, «wäre ein Mass, das für die nächsten Generationen sehr schwer zu unterbieten ist», sagt Bolt. Der 29-Jährige glaubt an die Umsetzung. Sein Trainer ebenso. Und wir holen schon einmal das Geschichtsbuch hervor.