Der Triumph letzten Sonntag in Einsiedeln kam aufgrund von Küngs Palmares keineswegs überraschend. Doch eine Selbstverständlichkeit war der Sieg – zugleich der erste eines Schweizers in diesem Jahr auf Stufe World Tour – keineswegs. Der 29-jährige Thurgauer hatte nach seinem geplanten Ausstieg aus dem Giro d'Italia verhältnismässig wenig Zeit für die Vorbereitung auf die Tour de Suisse.
Deshalb nahm Küng in dieser «relativ kurzen» Phase eine Priorisierung vor. Er habe heuer «lieber mal eine Einheit auf dem Zeitfahr-Velo mehr gemacht, statt eine Trainingsfahrt mit 5000 Höhenmetern». Seine Überlegung dahinter: «Ich gewinne lieber Rennen, also Zeitfahren, als in einem Gesamtklassement Fünfter zu werden.» Den 5. Platz belegte er bei der letztjährigen Schweizer Landesrundfahrt. Gar bis zum Schlusswochenende durfte Küng mit dem Gesamtsieg liebäugeln. «Damit habe ich alle überrascht, auch mich selber.»
Aber seine verbesserten Kletter-Fähigkeiten hatten auch ihren Preis, wie Küng erzählt: «Vielleicht war es eben doch so, dass ich es letztes Jahr in der Vorbereitung auf die Spitze getrieben habe, gerade auch mit dem Bergauf-Fahren. Dafür habe ich an anderen Orten etwas gebüsst.» Küng blieb die ganze Saison ohne Sieg in einem wichtigen Rennen. Das war ihm zuletzt 2016, in seinem zweiten Jahr als Profi, passiert.
Küng zog seine Lehren daraus. Er sei sicher ein Fahrer, «der auf vielen verschiedenen Terrains gut sein kann. Aber ich kann nicht allem nachrennen.» Für 2023 überlegte sich der Fahrer des französischen Teams Groupama-FDJ deshalb ganz genau, was ihm wichtig ist und wie er seine Fähigkeiten am besten ausspielen kann.
Sein grösstes Ziel in diesem Jahr seien die Weltmeisterschaften in Glasgow, und da gelte der Fokus ganz dem fast 50 km langen und vorwiegend flachen Zeitfahren. «Da braucht es vor allem Power», ist sich Küng bewusst. «Diese Power bin ich nicht bereit zu opfern, nur damit ich bergauf ein wenig schneller fahren kann.»
Endlich soll es mit dem WM-Titel klappen, nachdem er diesen vergangenen September in Australien nur um drei Sekunden verpasst hatte. Ehren- und Top-5-Plätze habe er hingegen «zur Genüge», so Küng, den in Schottland auch das Strassenrennen nicht gross lockt. «Da habe ich schon einmal eine WM-Medaille gewonnen.»
Fast zwei Monate vor Glasgow sei er genau an dem Punkt, «an welchem ich jetzt sein will». Nach der Anstrengung am Dienstag hinauf nach Villars-sur-Ollon, wo er alles gab, um das Maillot jaune zu verteidigen (was ihm nicht gelang), «geht es in den kommenden Tagen nun darum, mich zu erholen, um im abschliessenden Zeitfahren nochmals den Sieg anzustreben.» Küng sieht die Tour de Suisse sowieso auch als «ein Vorbereitungsrennen an, welches sich gut auf meine Form auswirken soll».
Ab dem 1. Juli folgt die Tour de France, «ganz klar das grösste Radrennen der Welt, das über allen anderen steht. Da ist die Crème de la Crème am Start – und selber willst du natürlich auch dabei sein.» Küng ist seit seiner ersten Teilnahme 2017 immer am Start, heuer zum siebten Mal in Folge.
Er habe mit der Frankreich-Rundfahrt noch eine Rechnung offen, sagt der Ostschweizer. Einerseits vom letzten Jahr her, als er wegen einer vorgängigen Corona-Erkrankung handicapiert war. Andererseits «würde ich gerne auch einmal eine Tour-Etappe gewinnen», so Küng, dessen beste Klassierung in Frankreich zweite Plätze sind – in Zeitfahren natürlich.
(nih/sda)