Am 16. Juni jährt sich der Tod von Gino Mäder zum zweiten Mal. Kurz darauf kehrt die Tour de Suisse, deren 5. Etappe dem Schweizer Radsportler im Jahr 2023 zum Verhängnis wurde, an den Ort der Tragödie zurück. Am Donnerstag, 19. Juni, startet eine Etappe im Engadiner Dorf La Punt. Fünf Kilometer bergaufwärts befindet sich die Kurve, in der sich Mäder bei einem Sturz derart stark am Kopf verletzte, dass er am Tag danach im Kantonsspital in Chur starb.
Die Unfallkurve sieht heute anders aus als an jenem Donnerstag im Jahr 2023, als hier neben Mäder auch der amerikanisch-norwegische Rennfahrer Magnus Sheffield von der Strasse abkam und stürzte. Später erholte dieser sich von seinen Verletzungen.
Zusätzliche schwarz-weisse Leitpfosten mit Reflektoren säumen den Strassenrand. Und ein rund 1,5 Meter hoher und 70 Meter langer Damm aus Erde verläuft entlang der Talseite der Linkskurve. Er endet kurz vor der Stelle, an der Mäder in die Tiefe stürzte. Die Bauarbeiten wurden im September des vergangenen Jahres abgeschlossen.
Der Erddamm soll die Weitsicht auf den weiter unten einsehbaren Strassenverlauf brechen und die Aufmerksamkeit von Verkehrsteilnehmern auf die kommende Kurve lenken. Die Leitpfosten sollen den ganzen Verlauf der Kurve kennzeichnen. So steht es im Sanierungsprotokoll des Tiefbauamts Graubünden.
Gestützt auf das kantonale Öffentlichkeitsgesetz hatte CH Media Einblick in Dokumente, welche Gino Mäders Unfallkurve betreffen. Dazu gehört auch der Bericht der Road Safety Inspection, die der Sanierung vorausgegangen war. Eine solche Sicherheitsuntersuchung wird angeordnet, wenn sich Unfälle auf einem Strassenabschnitt häufen.
Die Linkskurve auf der Albulastrasse galt seit Ende März 2023, also zweieinhalb Monate vor dem Start der Tour de Suisse, als Unfallschwerpunkt. Der Kanton Graubünden hatte damals aber darauf verzichtet, die Stelle für die Umsetzung von Massnahmen zu priorisieren. Das zuständige Tiefbauamt begründete dies später mit der «geringen Anzahl Unfälle». Zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 30. Juni 2023 hatten sich an dieser Stelle vier Unfälle ereignet.
Zwei Töff-, ein Auto- und ein Velounfall. Recherchen von CH Media zeigten, dass der Velounfall sehr ähnlich war wie der Sturz von Gino Mäder. Der Hobbyrennfahrer Harry Nussbaumer stürzte während eines Amateurrennens an derselben Stelle und musste schwer verletzt mit einem Rettungshelikopter ins Spital geflogen werden.
«Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit durch die Ereignisse an der Tour de Suisse 2023» ordnete das Bündner Tiefbauamt die Road Safety Inspection an, wie es im Sanierungsprotokoll heisst. Ein privates Ingenieurbüro aus der Region wurde mit der Untersuchung beauftragt. Im November 2023 inspizierten die Ingenieure den Ort. Aufgrund ihrer Beobachtungen und Messungen stellten sie dem Strassenabschnitt im Juni 2024 ein schlechtes Zeugnis aus.
Sicherheitsnormen werden mehrfach verletzt. Gemäss Vorgabe des Schweizerischen Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute müsste sich die Fahrbahn in der Kurve mit einer Querneigung von 7 Prozent zur Kurveninnenseite neigen. Die Ingenieure stellten fest, dass sich der erste Teil der Kurve deutlich stärker als 7 Prozent, der zweite Teil aber an gewissen Stellen deutlich weniger als 7 Prozent neigt.
Die Kurve ist also zunächst steil, was in Kurven Fliehkräfte bändigt, flacht aber zum Ausgang der Kurve ab. In diesem zweiten Teil sind die Unfälle während der Tour de Suisse passiert. Sie spielten allerdings bei der Untersuchung keine Rolle.
«Abweichung zur Norm: gross; potenzielle Unfallschwere: schwer; Unfallrisiko: hoch», heisst es zur Querneigung im Bericht der Ingenieure. Die Wichtigkeit des Kriteriums für die Strassensicherheit wird von den Ingenieuren als «gross» eingestuft.
Auch die schwarz-weissen Leitpfosten hätten in einer solchen Kurve eigentlich verdichtet angeordnet werden müssen. Dies war aber nicht der Fall. Auch Leitpfeile, die schwarz-weissen Dreieckstafeln, die man vor mancher heiklen Kurve sieht, waren nicht vorhanden. Die Ingenieure notierten: «Abweichung zur Norm: gross, potenzielle Unfallschwere: schwer, Unfallrisiko: hoch». Die Wichtigkeit des Kriteriums für die Sicherheit wird hier als «mittel» angegeben.
Das Unfallgeschehen sei sehr hoch, der weitere Kurvenverlauf nicht einsehbar und die Querneigung entspreche nicht der Norm, hielten die Ingenieure fest und empfahlen ein ganzes Bündel von Massnahmen. Sie kommen einem Totalumbau der Kurve gleich.
Kurzfristig sollen mehr und dichter angeordnete Leitpfeile Fahrzeuglenkern frühzeitig den unsteten Kurvenverlauf aufzeigen. Leitpfeile (schwarz-weisse Tafeln) sollen dies auch bei Nebel und Dunkelheit sicherstellen. Mittelfristig soll die Kurve derart umgebaut werden, dass die Querneigung der Norm entspricht und die Längsneigung konstanter ist. Eine gleichmässigere Fahrbahn wird das Risiko von Schleuderunfällen verringern, steht im Bericht. Zudem soll die Böschung auf der Bergseite der Strasse abgeflacht werden, um die Sicht auf den Strassenverlauf zu verbessern. Langfristig könne zudem eine Begradigung der Strasse in Betracht gezogen werden, weil grössere Kurvenradien eine flüssigere und komfortablere Fahrweise ermöglichten.
Umgesetzt von den Empfehlungen der Ingenieure haben die Bündner Behörden lediglich das Anbringen von zusätzlichen und dichter platzierten Leitpfosten. Die Installation von drei Leitpfeilen wird als zusätzliche Massnahme zwar in Betracht gezogen, vorerst aber nicht umgesetzt. Zuerst soll das Unfallgeschehen beobachtet und die Wirkung der bisherigen Massnahmen kontrolliert werden. Zu diesen Massnahmen gehört auch der 70 Meter lange Erddamm. Er wird im Road-Safety-Bericht nicht erwähnt.
Warum setzen die Bündner Behörden nicht mehr der empfohlenen Massnahmen um? Grundsätzlich liegt es im Ermessen des Tiefbauamtes, welche Empfehlung sie umsetzt. Eine gesetzliche Verpflichtung gibt es nicht. Ein Hindernis sind historische Säumerpfade, die sich in unmittelbarer Nähe der Unfallkurve befinden. Sie sind im Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz aufgeführt, stehen also unter Schutz. Nur wenn es keine Alternative gibt und ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht, haben bauliche Eingriffe wie das empfohlene Abflachen der Böschung überhaupt eine Chance, bewilligt zu werden. «Ein solches Interesse ist im Falle einer Passstrasse mit saisonaler Wintersperre nicht gegeben», hält das Tiefbauamt Graubünden in einer Stellungnahme fest.
Doch warum wurden nicht einmal die Leitpfeile angebracht, die ohne Beschädigung der Säumerpfade hätten installiert werden können? Der tieferliegende Grund für die Zurückhaltung ist in der Einschätzung des Tiefbauamts zu suchen, dass sich in der untersuchten Kurve «nur eine geringe Anzahl von Unfällen» zugetragen habe.
Sie steht im krassen Gegensatz zum Road-Safety-Bericht der unabhängigen Ingenieure. Sie schreiben von «sehr hohem Unfallgeschehen». Auf die unterschiedliche Wahrnehmung angesprochen verweist das Bündner Tiefbauamt auf die 4500 Verkehrsunfälle mit Personenschäden, die der Kanton in den letzten zehn Jahren auf öffentlichen Strassen registrierte. «In der besagten Kurve wurden im gleichen Zeitraum vier Unfälle mit verletzten Personen protokolliert.» Die pauschale Aussage, es handle sich um ein «sehr hohes Unfallgeschehen», könne anhand dieser Zahlen nicht gestützt werden.
Die Unfälle von Magnus Sheffield und Gino Mäder spielen bei dieser Einschätzung keine Rolle. Da die Strasse während der Tour-de-Suisse-Etappe gesperrt war, gelten sie nicht als Verkehrsunfälle, sondern als Sportunfälle. Sie tauchen nicht in der Statistik auf.