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Todeskurve von Gino Mäder am Albula-Pass: Behörden wussten von Gefahr

Memorial and at the same time accident site of Gino Maeder, on Albulapass, Switzerland, on Sunday, June18, 2023. Gino Maeder from Switzerland of Team Bahrain Victorious crashed during descent from the ...
In der Abfahrt vom Albulapass verunglückte Gino Mäder tödlich.Bild: KEYSTONE

Unveröffentlichter Bericht wirft neues Licht auf Kurve, in der Gino Mäder tödlich stürzte

Ein unveröffentlichter Bericht zeigt massive Sicherheitsmängel in der Kurve, wo Gino Mäder tödlich stürzte. Nur ein Teil davon wurde von den Behörden behoben. Warum?
07.06.2025, 08:2707.06.2025, 13:02
Pascal Ritter / ch media
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Am 16. Juni jährt sich der Tod von Gino Mäder zum zweiten Mal. Kurz darauf kehrt die Tour de Suisse, deren 5. Etappe dem Schweizer Radsportler im Jahr 2023 zum Verhängnis wurde, an den Ort der Tragödie zurück. Am Donnerstag, 19. Juni, startet eine Etappe im Engadiner Dorf La Punt. Fünf Kilometer bergaufwärts befindet sich die Kurve, in der sich Mäder bei einem Sturz derart stark am Kopf verletzte, dass er am Tag danach im Kantonsspital in Chur starb.

Die Unfallkurve sieht heute anders aus als an jenem Donnerstag im Jahr 2023, als hier neben Mäder auch der amerikanisch-norwegische Rennfahrer Magnus Sheffield von der Strasse abkam und stürzte. Später ­erholte dieser sich von seinen Verletzungen.

Ein Erdwall und zusätzliche Leitpfosten

Zusätzliche schwarz-weisse Leitpfosten mit Reflektoren säumen den Strassenrand. Und ein rund 1,5 Meter hoher und 70 Meter langer Damm aus Erde verläuft entlang der Talseite der Linkskurve. Er endet kurz vor der Stelle, an der Mäder in die Tiefe stürzte. Die Bauarbeiten wurden im September des vergangenen Jahres abgeschlossen.

Eine aktuelle Aufnahme zeigt den neuen 1,6 Meter hohen Erddamm in der Kurve, wo Gino Mäder stürzte. Der Wall soll die Sicht auf die Strasse weiter unten versperren, damit sich Verkehrsteilnehmer auf d ...
Eine aktuelle Aufnahme zeigt den neuen 1,6 Meter hohen Erddamm in der Kurve, wo Gino Mäder stürzte. Der Wall soll die Sicht auf die Strasse weiter unten versperren, damit sich Verkehrsteilnehmer auf die Kurve konzentrieren.Bild: Giancarlo Cattaneo

Der Erddamm soll die Weitsicht auf den weiter unten einsehbaren Strassenverlauf brechen und die Aufmerksamkeit von Verkehrsteilnehmern auf die kommende Kurve lenken. Die Leitpfosten sollen den ganzen Verlauf der Kurve kennzeichnen. So steht es im Sanierungsprotokoll des Tiefbauamts Graubünden.

Gestützt auf das kantonale Öffentlichkeitsgesetz hatte CH Media Einblick in Dokumente, welche Gino Mäders Unfallkurve betreffen. Dazu gehört auch der Bericht der Road Safety Inspection, die der Sanierung vorausgegangen war. Eine solche Sicherheitsuntersuchung wird angeordnet, wenn sich ­Unfälle auf einem Strassenabschnitt häufen.

Kurve galt schon vor der fatalen Etappe als Unfallschwerpunkt

Die Linkskurve auf der Albulastrasse galt seit Ende März 2023, also zweieinhalb Monate vor dem Start der Tour de Suisse, als Unfallschwerpunkt. Der Kanton Graubünden hatte damals aber darauf verzichtet, die Stelle für die Umsetzung von Massnahmen zu priorisieren. Das zuständige Tiefbauamt begründete dies später mit der «geringen Anzahl Unfälle». Zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 30. Juni 2023 hatten sich an dieser Stelle vier Unfälle ereignet.

Die Linkskurve auf der Albulastrasse galt seit Ende März 2023, also zweieinhalb Monate vor dem Start der Tour de Suisse, als Unfallschwerpunkt. Der Kanton Graubünden hatte damals aber darauf verzichte ...

Zwei Töff-, ein Auto- und ein Velounfall. Recherchen von CH Media zeigten, dass der Velounfall sehr ähnlich war wie der Sturz von Gino Mäder. Der Hobbyrennfahrer Harry Nussbaumer stürzte während eines Amateurrennens an derselben Stelle und musste schwer verletzt mit einem Rettungsheli­kop­ter ins Spital geflogen werden.

«Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit durch die Ereignisse an der Tour de Suisse 2023» ordnete das Bündner Tiefbauamt die Road Safety ­Inspection an, wie es im Sanierungsprotokoll heisst. Ein privates Ingenieur­büro aus der ­Region wurde mit der Untersuchung beauftragt. Im November 2023 inspizierten die Ingenieure den Ort. Aufgrund ihrer Beobachtungen und Messungen stellten sie dem Strassenabschnitt im Juni 2024 ein schlechtes Zeugnis aus.

Geltende Normen werden nicht eingehalten

Sicherheitsnormen werden mehrfach verletzt. Gemäss Vorgabe des Schweizerischen Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute müsste sich die Fahrbahn in der Kurve mit einer Querneigung von 7 Prozent zur Kurveninnenseite neigen. Die Ingenieure stellten fest, dass sich der erste Teil der Kurve deutlich stärker als 7 Prozent, der zweite Teil aber an gewissen Stellen deutlich weniger als 7 Prozent neigt.

Die Kurve ist also zunächst steil, was in Kurven Fliehkräfte bändigt, flacht aber zum Ausgang der Kurve ab. In diesem zweiten Teil sind die Unfälle während der Tour de Suisse passiert. Sie spielten allerdings bei der Untersuchung keine Rolle.

«Abweichung zur Norm: gross; potenzielle Unfallschwere: schwer; Unfallrisiko: hoch», heisst es zur Querneigung im Bericht der Ingenieure. Die Wichtigkeit des Kriteriums für die Strassensicherheit wird von den Ingenieuren als «gross» ­eingestuft.

Drohnenaufnahme der gefährlichen Kurve. Früher blickten Verkehrsteilnehmer direkt auf einen Teil der Strasse weiter unten. Heute versperrt ein Erdwall diese trügerische Sicht.
Drohnenaufnahme der gefährlichen Kurve. Früher blickten Verkehrsteilnehmer direkt auf einen Teil der Strasse weiter unten. Heute versperrt ein Erdwall diese trügerische Sicht.Bild: Giancarlo Cattaneo / fotoSwiss st.moritz

Auch die schwarz-weissen Leitpfosten hätten in einer solchen Kurve eigentlich verdichtet angeordnet werden müssen. Dies war aber nicht der Fall. Auch Leitpfeile, die schwarz-weissen Dreieckstafeln, die man vor mancher heiklen Kurve sieht, waren nicht vorhanden. Die Ingenieure notierten: «Abweichung zur Norm: gross, potenzielle Unfallschwere: schwer, Unfallrisiko: hoch». Die Wichtigkeit des Kriteriums für die Sicherheit wird hier als «mittel» angegeben.

Das Unfallgeschehen sei sehr hoch, der weitere Kurvenverlauf nicht einsehbar und die Querneigung entspreche nicht der Norm, hielten die Ingenieure fest und empfahlen ein ganzes Bündel von Massnahmen. Sie kommen einem Totalumbau der Kurve gleich.

Ingenieure empfehlen Totalumbau der Kurve

Kurzfristig sollen mehr und dichter angeordnete Leitpfeile Fahrzeuglenkern frühzeitig den unsteten Kurvenverlauf aufzeigen. Leitpfeile (schwarz-weisse Tafeln) sollen dies auch bei Nebel und Dunkelheit sicherstellen. Mittelfristig soll die Kurve derart umgebaut werden, dass die Querneigung der Norm entspricht und die Längsneigung konstanter ist. Eine gleichmässigere Fahrbahn wird das Risiko von Schleuderunfällen verringern, steht im Bericht. Zudem soll die Böschung auf der Bergseite der Strasse abgeflacht werden, um die Sicht auf den Strassenverlauf zu verbessern. Langfristig könne zudem eine Begradigung der Strasse in ­Betracht gezogen werden, weil grössere Kurvenradien eine flüssigere und komfortablere Fahrweise ermöglichten.

Umgesetzt von den Empfehlungen der Ingenieure haben die Bündner Behörden lediglich das Anbringen von zusätzlichen und dichter platzierten Leitpfosten. Die Installation von drei Leitpfeilen wird als zusätzliche Massnahme zwar in Betracht gezogen, vorerst aber nicht umgesetzt. Zuerst soll das Unfallgeschehen beobachtet und die Wirkung der bisherigen Massnahmen kontrolliert werden. Zu diesen Massnahmen gehört auch der 70 Meter lange Erddamm. Er wird im Road-­Safety-Bericht nicht erwähnt.

Ingenieure und Kanton widersprechen sich

Warum setzen die Bündner ­Behörden nicht mehr der empfohlenen Massnahmen um? Grundsätzlich liegt es im Ermessen des Tiefbauamtes, welche Empfehlung sie umsetzt. Eine gesetzliche Verpflichtung gibt es nicht. Ein Hindernis sind historische Säumerpfade, die sich in unmittelbarer Nähe der Unfallkurve befinden. Sie sind im Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz aufgeführt, stehen also unter Schutz. Nur wenn es keine Alternative gibt und ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht, haben bauliche Eingriffe wie das empfohlene Abflachen der Böschung überhaupt eine Chance, bewilligt zu werden. «Ein solches Interesse ist im Falle einer Passstrasse mit saisonaler Wintersperre nicht gegeben», hält das Tiefbauamt Graubünden in einer Stellungnahme fest.

Doch warum wurden nicht einmal die Leitpfeile angebracht, die ohne Beschädigung der Säumerpfade hätten installiert werden können? Der tie­ferliegende Grund für die Zurückhaltung ist in der Einschätzung des Tiefbauamts zu suchen, dass sich in der untersuchten Kurve «nur eine geringe Anzahl von Unfällen» zugetragen habe.

Sie steht im krassen Gegensatz zum Road-Safety-Bericht der unabhängigen Ingenieure. Sie schreiben von «sehr hohem Unfallgeschehen». Auf die unterschiedliche Wahrnehmung angesprochen verweist das Bündner Tiefbauamt auf die 4500 Verkehrsunfälle mit Personenschäden, die der Kanton in den letzten zehn Jahren auf öffentlichen Strassen registrierte. «In der besagten Kurve wurden im gleichen Zeitraum vier Unfälle mit verletzten Personen protokolliert.» Die pauschale Aussage, es handle sich um ein «sehr hohes Unfallgeschehen», könne anhand dieser Zahlen nicht gestützt werden.

Er ist nicht vergessen: In der Kurve, wo Gino Mäder während der 5. Etappe der Tour de Suisse 2023 tödlich verunglücktec, legen Fans und Freunde Bidons, Velokäppli und andere Gegenstände nieder.
Er ist nicht vergessen: In der Kurve, wo Gino Mäder während der 5. Etappe der Tour de Suisse 2023 tödlich verunglücktec, legen Fans und Freunde Bidons, Velokäppli und andere Gegenstände nieder.Bild: Giancarlo Cattaneo

Die Unfälle von Magnus Sheffield und Gino Mäder ­spielen bei dieser Einschätzung keine Rolle. Da die Strasse während der Tour-de-Suisse-Etappe gesperrt war, gelten sie nicht als Verkehrsunfälle, sondern als Sportunfälle. Sie tauchen nicht in der Statistik auf.

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Die beliebtesten Kommentare
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Luusbueb_
07.06.2025 12:54registriert August 2023
Es geht halt unter, dass dazwischen Abertausende Velo-, Töff- und Autofahrer problemlos durch die Kurve gekommen sind. Es verschlingt Unmengen an Steuergeld, die ganze Welt genormt zu bauen. Man könnte auch einfach meinen, jeder sei für seine Kurvensicherheit selbst verantwortlich, aber offensichtlich schiebt man selbst das lieber dem Staat ab.
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wizzzard
07.06.2025 12:50registriert Januar 2016
Mich befremdet der alarmistische Tonfall dieses Artikels. Ich kenne die besagte Kurve sehr gut. Sie ist sicher nicht ungefährlich, aber auch nicht gefährlicher als viele andere Kurven auf engen Alpenstrassen. Wer sich auf eine Strasse mit Schwierigkeitsgrad 2-3 auf der Denzel-Skala wagt muss auch eine gewisse Eigenverantwortung übernehmen und Vorsicht walten lassen. Ich vermute mal, dass der Autor dieses Artikels nicht oft in den Bergen unterwegs ist.
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SimonD
07.06.2025 13:46registriert März 2019
Als langjähriger Rennvelofahrer und Geniesser von schnellen Passabfahrten: Hat es nicht auf jeder Alpenpassstrasse nicht-normkonforme Stellen und gefähliche Kurven…? Natürlich ist es tragisch, dass Gino Mäder dort verunglückt ist. Ich verstehe es aber absolut, dass der Kanton Graubünden priorisiert, um objektivere Gefahrenstellen zu beseitigen.
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    Der Uhu, der Finnlands Fussball-Nati den Spitznamen «Huuhkajat» gibt
    6. Juni 2007: Bis zur Teilnahme an der EM 2021 hat Finnlands Fussball-Nationalteam nach dem Zweiten Weltkrieg keinerlei Erfolge vorzuweisen. Da kommt es wie gerufen, dass ein Zwischenfall während einer Partie für ein wenig Ablenkung von den Resultaten sorgt.

    Finnland ist bekannt als ein Land von Saunagängern, Speerwerfern und Autorennfahrern. Fussballer? Klar, mit Jari Litmanen gab es in den 1990er-Jahren einen Weltstar. Sami Hyypiä verteidigte beim FC Liverpool und Hannu Tihinen wurde beim FC Zürich als Abwehrchef zur Legende.

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