Sekunden entscheiden im Sport oft über Freud und Leid. Manchmal sind es gar nur wenige Hundertstelsekunden, ein Wimpernschlag. Einer, der das auf teils dramatische Art und Weise am eigenen Leib erfahren musste, ist Stefan Küng. So könnte der 29-jährige Thurgauer am Freitag beim WM-Zeitfahren im schottischen Stirling als amtierender Welt- und Europameister und zusätzlich noch als Olympiamedaillengewinner an den Start, doch bei diesen drei Wettkämpfen war das Hundertstelglück nicht auf seiner Seite.
Rückblende: Bei den Olympischen Spielen in Tokio am Fusse des Mount Fuji sind die Zeitfahrer knapp eine Stunde unterwegs. Als Küng die Ziellinie passiert, trennen ihn vier Zehntelsekunden von der Bronzemedaille. Bei den European Championships in München im August des vergangenen Jahres wird er Zweiter, muss Teamkollege Stefan Bissegger um 53 Hundertstelsekunden den Vortritt gewähren. Nur einen Monat später lässt er bei der WM im australischen Wollongong sämtliche Favoriten hinter sich, doch der norwegische Überraschungsmann Tobias Voss schnappt ihm Gold vor der Nase weg. 2,95 Sekunden trennen Küng vom Weltmeistertitel.
«Da ist längst wieder Grass drüber gewachsen. Glücklicherweise gibt es immer wieder neue Chancen», sagt Küng vor dem Saisonhighlight. Der Ostschweizer wirkt dabei weder verbittert noch verbissen. Natürlich sei das in der Summe schon sehr ärgerlich gewesen, doch als Sportler habe man die Tendenz, rasch wieder nach vorne zu blicken. Er unterstreicht das mit einer Anekdote. «Kürzlich hat mir noch jemand für den Zeitfahrsieg an der Tour de Suisse gratuliert. Da war ich kurz verdutzt, da dieser schon beinahe zwei Monate her ist.»
Neben dem Erfolg in der Heimat konnte der Ostschweizer in dieser Saison bei der Algarve-Rundfahrt, ebenfalls in einem Zeitfahren, triumphieren. Zudem sind noch die beiden fünften Ränge beim Klassiker Paris-Roubaix und dem WM-Strassenrennen des vergangenen Sonntags herauszustreichen. Zwar durfte Küng in der Vergangenheit mit zwei Europameistertiteln, WM-Bronze, WM-Silber (alle im Zeitfahren) und WM-Bronze im Strassenrennen von 2019 schon schöne Erfolge feiern, doch der ganz grosse Titel fehlt noch in seinem Palmarès.
Das soll sich nun am Freitag auf der 47.8 Kilometer langen Strecke mit Start und Ziel in Stirling ändern. Neben den für ein Zeitfahren auffallend vielen Kilometern warten 350 Höhenmeter auf die Profis, die es vor allem in der zweiten Streckenhälfte zu überwinden gilt. Wirklich steil wird es aber nie. Auch bei dieser Ausgabe wird der 29-Jährige als einer der Topfavoriten an den Start gehen.
«Ich weiss, dass ich jedes Mal um den Sieg fahre. Das wird nun auch wieder der Fall sein.» Es gibt jedoch einige Kandidaten, die ebenfalls mit Gold liebäugeln. Beispielsweise die Belgier Remco Evenepoel und Wout van Aert, der Slowene Tadej Pogacar oder der Italiener Filippo Ganna.
Aus dem eigenen Lager darf auch mit Stefan Bissegger gerechnet werden. Obwohl der 24-jährige Thurgauer Anfang August im Kampf gegen die Uhr bei der Polenrundfahrt mit dem 14. Rang enttäuschte, bleibt er dennoch optimistisch. «Dort habe ich leider einen schlechten Tag erwischt. Nun hoffe ich auf einen besseren, an dem alles möglich ist.»
Zurück zu Küng, der angesprochen auf die Faszination des Zeitfahrens ins Schwärmen gerät. «In dieser Disziplin gibt es keine Geheimnisse. Am meisten treibt mich die Perfektion um.» Dabei wird man nicht von den Kontrahenten beeinflusst. Der Athlet muss mit seinem Fahrgerät einwandfrei harmonieren. Sei es in Bezug auf das Pacing, das Kurvenfahren oder die aerodynamische Position. «Mich fasziniert auch, welche Tempi man erreichen kann. In den vergangenen Jahren sind die Durchschnittsgeschwindigkeiten immer angestiegen. Wir bewegen uns im Radius zwischen 50 und 55 km/h. Wenn man im Flow ist, dann fliegt man regelrecht über die Strecke.»
Einen solchen Flow wünscht sich Stefan Küng auch am Freitag. Auch wenn er sich nach diesem Weltmeistertitel sehnt, will er sich nicht allzu sehr unter Druck setzen. «Im kommenden Jahr steigen die Olympischen Spiele in Paris. Der Parcours sieht für mich schon mal vielversprechend aus. Zudem ist die Heim-WM in Zürich. Es gibt noch schöne Orte, um meine Ziele zu erreichen. An diesen bleibe ich dran und gebe nicht auf.» (aargauerzeitung.ch)