Sollten wir wirklich die Mehrzahl verwenden, wenn es doch vor allem einen ganz grossen Favoriten gibt? Ja, sollten wir, schliesslich kann auch Tadej Pogacar etwas zustossen in den nächsten drei Wochen. Er könnte krank werden oder heftig stürzen.
Krank war er kürzlich tatsächlich, wie er am Donnerstag schilderte. Pogacar hatte Covid, sagt aber, er habe sich gut erholt und sei voll einsatzfähig.
Sicher ist: Wer die Tour de France 2024 gewinnen will, muss den populären Slowenen hinter sich lassen. Der 25-jährige Pogacar versucht sich in diesem Jahr am Double: Er wäre seit 1998 der erste Fahrer nach Marco Pantani, der in der gleichen Saison den Giro d'Italia und die Tour gewinnt.
Die Italien-Rundfahrt dominierte «Tamau Pogi» («kleiner Pogi») nach Belieben. Nach dem Triumph bestritt er keine Rennen mehr, sondern trainierte für seinen zweiten Saisonhöhepunkt. Das UAE Team Emirates ordnet alles dem Gesamtsieg unter, Pogacar kann auf diverse hochkarätige Helfer zählen: etwa auf Adam Yates, Juan Ayuso, João Almeida oder Marc Soler. Für den Schweizer Marc Hirschi war in diesem Aufgebot kein Platz.
Jonas Vingegaard schlug Pogacar in den vergangenen zwei Jahren und galt auch in dieser Saison als heisser Kandidat für den Gesamtsieg – bis der Däne am 4. April im Baskenland stürzte, zwölf Tage lang im Spital lag und sich mühsam wieder in Form bringen musste.
Wie gut diese Form ist, steht in den Sternen. Zudem beklagt das Team Visma-Lease a Bike prominente Ausfälle: Vuelta-Sieger Sepp Kuss ist an Covid erkrankt, Dylan van Baarle und Steven Krujswijk fehlen wegen Verletzungen. Denkbar also, dass die Mannschaft bald auf Etappensiege umstellen wird; dazu hat sie mit Wout van Aert, Christophe Laporte oder Matteo Jorgenson einige Kandidaten dabei. Je nach Rennverlauf könnte Jorgenson auch Vismas Joker in der Gesamtwertung sein.
In der gleichen Kurve wie Vingegaard kamen auch Primoz Roglic und Remco Evenepoel zu Fall. Sie erholten sich rascher. Der Slowene Roglic, der seit dieser Saison für Red Bull-Bora-Hansgrohe fährt, gewann mit der Dauphiné-Rundfahrt die Hauptprobe für die Tour, allerdings ohne dabei restlos zu überzeugen. Der mittlerweile 24-jährige Evenepoel beendete das Rennen als Gesamtsiebter. Der Belgier, 2022 Weltmeister geworden, nimmt erstmals an der Tour de France teil. Sind seine Zeitfahr-Qualitäten unbestritten, ist hinter seine Fähigkeiten im Hochgebirge ein Fragezeichen zu setzen.
Für eine Überraschung könnte Carlos Rodriguez gut sein. Der 23-jährige Spanier wurde im letzten Jahr Fünfter und soll nun für das Team Ineos-Grenadier aufs Podest fahren. Die Briten bringen eine starke Equipe an den Start mit Co-Leader Egan Bernal, Geraint Thomas und Tom Pidcock.
Im 176 Mann starken Fahrerfeld befinden sich drei Schweizer Profis: Stefan Küng, Stefan Bissegger und Silvan Dillier.
Küng (Groupama-FDJ) ist wohl am ehesten ein Exploit zuzutrauen. Vielleicht erhält er auf einer Flachetappe grünes Licht von den Teamchefs, etwas zu versuchen. Ansonsten wird der Thurgauer als einer der besten Zeitfahrer der Welt versuchen, in der 7. Etappe zu brillieren. Diesen 25,3 km langen und kaum coupierten Kampf gegen die Uhr wird auch Bissegger (EF Education-Easy Post) ins Visier nehmen. Allerdings werden die Anwärter auf den Gesamtsieg ebenfalls Vollgas geben.
Ansonsten haben Küng und Bissegger, die am Donnerstag als Schweizer Duo für die Olympischen Spiele selektioniert wurden, genau wie Dillier (Alpecin-Deceuninck) primär Helferaufgaben. Der Aargauer Dillier soll Fluchtgruppen einholen, damit Mathieu van der Poel und Jasper Philipsen Etappensiege einfahren können. Küngs Job ist es, mit David Gaudu einen Mann für die Gesamtwertung sicher durchs Peloton zu lotsen. Bissegger kann man vielleicht am ehesten in einer Spitzengruppe vor dem Feld sehen: Sein Team setzt auf Attacken.
Der Start erfolgt ein weiteres Mal ausserhalb Frankreichs, dieses Mal in Italien. Und er wird nicht gemütlich, sondern hammerhart. Die 1. Etappe von Florenz nach Rimini wartet mit 206 Kilometern und 3700 Höhenmetern auf. Es geht hoch und runter – und vielleicht balgen sich die Anwärter aufs Gesamtklassement schon ein erstes Mal. «Möglicherweise die schwerste Auftaktetappe, die wir je hatten», urteilte Tour-Direktor Christian Prudhomme.
Am vierten Tag befährt die Tour dann französischen Boden – und auch diese Etappe hat es in sich. So früh wie selten geht es hoch nach oben. Auf dem Programm steht mit dem Col du Galibier ein Riese der Alpen. Das Ziel ist nach einer technisch schwierigen Abfahrt in Valloire – nach dem tödlichen Sturz von Gino Mäder vor einem Jahr an der Tour de Suisse eine nicht unumstrittene Entscheidung der Organisatoren.
Auch eine Neuerung stösst nicht rundum auf Begeisterung: Die 9. Etappe beinhaltet 14 teils steile Schotter-Passagen wie bei Strade Bianche. Die Sorge vor einem Defekt und damit verbunden einem Zeitverlust treibt die Favoriten um. Im Fachmagazin «Tour» meinte Prudhomme: «Es wird immer einen Zwiespalt zwischen den Teamchefs geben, die am liebsten alle Eventualitäten ausschliessen möchten, und den Liebhabern des Radsports.» In diesem Fall wurde eine klare Wahl zugunsten der Attraktivität gefällt.
Nach der ersten Fahrt über die Alpen geht es weiter ins Zentralmassiv und schliesslich nach knapp zwei Rennwochen in die Pyrenäen. Dort stehen zwei harte Bergetappen auf dem Programm. In der ersten geht es erst über den Tourmalet und dann steil ins Ziel hoch nach Saint-Lary-Soulan Pla d'Adet. Tags darauf folgt ein Teilstück mit Col de Peyresourde, Col de Menté, Col du Portet d'Aspet, Col d'Agnès und der Bergankunft auf dem Plateau de Beille.
Gegen Ende der Tour sind noch einmal die Alpen dran. Herausragend ist in jeder Hinsicht die 19. Etappe. Erst muss das Feld über den Col de Vars, danach hoch zur Cime de la Bonette. Mit 2802 Metern über Meer ist dies die höchste asphaltierte Strasse Frankreichs. Das Etappenziel befindet sich nach einem Schlussanstieg hinauf nach Isola 2000.
In der vorletzten Etappe tags darauf sind die Berge nicht ganz so hoch, aber man sollte sich nicht täuschen lassen, denn gestartet wird auf Meereshöhe. Auf dem Col de Couillole steht noch einmal eine Bergankunft an.
Die beiden berühmtesten Tour-Anstiege werden in diesem Jahr nicht befahren: weder der Mont Ventoux noch die Alpe d'Huez. Die Alpe steht dann Mitte August im Fokus, wenn sie den finalen Anstieg der Tour de France der Frauen bildet.
Die Männer beenden ihre «Grande Boucle» mit einem Einzelzeitfahren. Das gab es zuletzt 1989 und jeder, der sich einigermassen für Radsport interessiert, weiss, wie es damals ausgegangen ist. Greg LeMond entriss Leader Laurent Fignon auf der Schlussetappe noch das Maillot Jaune und gewann die Tour mit gerade mal acht Sekunden Vorsprung.
Das war auf den Champs-Élysées in Paris, wo die letzte Etappe üblicherweise in einem Massensprint entschieden wird. Dies ist zum ersten Mal seit der ersten Austragung 1903 anders, weil sich die französische Hauptstadt auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Das Finale findet an der Côte d'Azur statt, das Zeitfahren zwischen Monaco und Nizza ist 33,7 km lang und beinhaltet den 8 km langen Aufstieg nach La Turbie.