Es geht Schlag auf Schlag. Immer noch ist die Radsport-Welt fasziniert von Tadej Pogacar, der am zweitletzten Tag der Tour de France für einen Umsturz im Gesamtklassement sorgte und einen Tag vor seinem 22. Geburtstag als Gewinner der Rundfahrt gefeiert wurde. Und dennoch wird in dieser rastlosen Nach-Lockout-Zeit bereits auch auf die Weltmeisterschaften geblickt, die in wenigen Tagen ausgetragen werden. Nicht in Aigle und in Martigny wie vorgesehen, die Corona-Pandemie machte den Westschweizer Organisatoren einen Strich durch die Rechnung.
Statt an eine Heim-WM geht es für das Schweizer Team in die Emilia-Romagna nach Imola. Dort wird am Sonntag der Nachfolger des Dänen Mads Pedersen gesucht. In den Kampf um das begehrte Regenbogentrikot möchte auch die Schweizer Equipe eingreifen. Ihr Kapitän wird ein ebenfalls erst 22-jähriger Rennfahrer sein, der an der Tour de France für Furore gesorgt hat: Marc Hirschi.
In Imola, wo die Formel 1 zwischen 1980 und 2006 Grands Prix austrug, wartet am Sonntag ein beinharter Rundkurs auf die Fahrer. Mit 258,2 Kilometern und 5000 Höhenmetern wird das WM-Rennen zu einem Überlebenskampf. Neun Runden mit jeweils zwei Anstiegen müssen die Profis absolvieren.
🚨 Route Announcement | Men Elite Road Race 🌈
— UCI (@UCI_cycling) September 11, 2020
🗺️ 258.2km
⛰️ 5000m
🔁 9 x 28.8km loop
More info 🔗 https://t.co/tWQigsoA7E#Imola2020 pic.twitter.com/lEHtpYTnWy
Zufallssieger gibt es bei den Weltmeisterschaften selten. Entsprechend hat sich Tour-Sieger Tadej Pogacar bereits in Stellung gebracht. «Ich muss die Strecke noch auskundschaften, aber ich erwarte ein langes, anspruchsvolles Rennen – genau ein solches, wie ich sie mag», sagte er vor der letzten Woche der Tour de France.
Ein ganz heisser Kandidat ist auch Vincenzo Nibali. Der 35-jährige Italiener, der alle drei grossen Landesrundfahrten gewonnen hat, möchte seiner Karriere in der Heimat die Krone aufsetzen. Nibali ist die Strecke bereits abgefahren. «Sie ist schwierig und selektiv», sagte der «Hai von Messina», besonders die beiden kurzen Anstiege seien sehr hart.
Die Liste der Siegesanwärter ist lang. Die Belgier schicken Wout van Aert und Olympiasieger Greg van Avermaet ins Rennen, Spanien und Kolumbien hat eine Armada guter Bergfahrer nominiert, die Franzosen haben Julian Alaphilippe und die Dänen hoffen, den Titel mit Jakob Fuglsang verteidigen zu können.
Der Leader der sechsköpfigen Schweizer Auswahl heisst Marc Hirschi. Er wird mit grossem Selbstvertrauen nach Imola reisen. Schliesslich durfte der Berner gestern in Paris bei der Siegerehrung der Tour de France auf dem Podest stehen: Er wurde als kämpferischster Fahrer der Rundfahrt ausgezeichnet.
«Das bedeutet mir sehr viel», hielt der 22-Jährige fest. Eigentlich war er nur zum Lernen nach Frankreich gereist, das Ziel war es, in Fluchtgruppen Unterschlupf zu finden. Das schaffte Hirschi – und wie. Zunächst wurde er Zweiter, dann nach langer Soloflucht Dritter und im dritten Anlauf schliesslich doch noch Etappensieger. Sein erster Sieg bei den Profis war gleich ein eindrücklich errungener im wichtigsten Rennen der Welt.
Für Hirschi geht es nun in den kommenden Tagen darum, sich einerseits von den Tour-Strapazen zu erholen und andererseits, die Topform konservieren zu können. «Die WM-Strecke liegt mir sehr», betonte er, als das Aufgebot vergangene Woche bekanntgegeben wurde. Hirschi wird von fünf erfahrenen Rennfahrern unterstützt: Michael Albasini (39), Michael Schär (33), Enrico Gasparotto (38), Simon Pellaud (27) und Silvan Dillier (30).
Letzterer könnte der Schweizer «Joker» sein, wenn Trumpf Hirschi nicht sticht. Doch in erster Linie gilt: Alle für einen, alle für Marc Hirschi. Laut Nationaltrainer Marcello Albasini, der seinen jungen Star als einen der fünf besten Fahrer im Starterfeld bezeichnet, haben die anderen Teammitglieder versichert, sich voll in Hirschis Dienste zu stellen.
Die Last, Leader zu sein, kann einen Fahrer erdrücken. Hinzu kommt die Tatsache, dass niemand in Imola Marc Hirschi unterschätzen wird. Im Gegenteil: Die Gegner werden ganz genau hinschauen, was der junge Berner macht. Und dennoch ist ein Jahr nach Stefan Küngs Gewinn der Bronzemedaille in Yorkshire ein erneuter Medaillengewinn für das Schweizer Team ein realistisches Ziel. Ob es gar so endet wie 1998 in Valkenburg? Damals wurde Oscar Camenzind als dritter und bis heute letzter Schweizer Strassenweltmeister.