Wenn doch nur alles im Leben so einfach wäre. «Gib dein Bestes», teilt Nicole Reist auf ihrer Website ihr Rennmotto, «und wenn du damit fertig bist, übertriff dich selber!»
Dieser Tage übertrifft sich die in Weisslingen bei Winterthur lebende Extrem-Radfahrerin tatsächlich gerade wieder einmal selber. Beim Race Across America (RAAM), der wichtigsten Veranstaltung dieser Sportart, eilt Reist im dritten Anlauf ihrem dritten Sieg entgegen.
Reist, Spitzname «Berggeiss», hat schon mehr als 3000 Kilometer auf dem Tacho, seit sie sich am vergangenen Dienstag in Oceanside (Kalifornien) aufmachte, die USA auf dem Velo von West nach Ost zu durchqueren. Am Montagmittag (Schweizer Zeit) hatte sie rund 230 Kilometer Vorsprung auf alle anderen Teilnehmer – wohlgemerkt auch auf alle Männer.
2016 und 2018 gewann die Ultracyclerin das RAAM bei ihren ersten beiden Teilnahmen bereits. 2020 wurde es wegen Corona abgesagt, im letzten Jahr erhielten Reist und ihr Team die nötigen Visa nicht.
Doch die Zürcherin liess sich nicht von ihrem Ziel abhalten, das RAAM mit neuem Rekord zu gewinnen. Sie will die Durchquerung der Vereinigten Staaten schneller schaffen als Seana Hogan, die 1995 bei ihrem Rekord mit durchschnittlich 21,3 km/h unterwegs war. Stand Montagmittag beträgt das Durchschnittstempo von Nicole Reist 22,8 km/h – ein beeindruckender Unterschied.
Nicole Reist hat die Hitze im Südwesten der USA ebenso hinter sich gebracht wie die Rocky Mountains und die mental fordernde Eintönigkeit der Great Plains in Kansas. Nun wird es wieder abwechslungsreicher am Strassenrand – und es folgen auch wieder Steigungen. Die Route führt durch die Appalachen, wo die Berge zwar weniger hoch sind als in den «Rockies», aber steil und deshalb nicht weniger gefürchtet. Die letzten Tage bis ins Ziel in Annapolis (Maryland), einer Stadt unweit von Washington, bieten ein stetes Auf und Ab. Es ist alles andere als ein lockeres Ausfahren, weshalb der Sieg auch noch längst nicht im Trockenen ist.
Besonders eindrücklich ist, mit wie wenig Schlaf Reist auskommt. Ihr Livetracker wies nach etwas mehr als fünf Renntagen bloss knapp elf Stunden aus, während denen die Athletin pausierte. Das RAAM ist ein Nonstop-Rennen, es gibt keine Etappen. Es geht darum, nach dem Startschuss am schnellsten das Ziel zu erreichen.
Noch eindrücklicher wird Reists Leistung, wenn man weiss, dass sie alles andere als eine Profisportlerin ist. Sie arbeitet in einem Vollzeit-Pensum als Hochbautechnikerin. Sie geht zwischen 19 und 20 Uhr ins Bett, weil sie um 01.30 Uhr für ein erstes Training aufsteht. Sie absolviert es zu Hause auf der Rolle und geht danach ins Büro. Nach Feierabend steht eine zweite Trainingseinheit ein.
Manchmal stellt Reist in ihrem Keller absichtlich das Licht aus, um das Fahren durch die Nacht zu simulieren. Dann gibt es nur sie und ihr Velo – wie derzeit in den USA. Um die 70'000 Franken kostet sie das Abenteuer, zu gewinnen gibt es so gut wie nichts. Einen Grossteil der Ausgaben übernehmen Sponsoren, für den Rest kommt die Sportlerin selber auf.
Reist spricht von einer grossen Leidenschaft, andere würden sich dafür ein neues Auto leisten oder längere Ferien. Sie wolle herausfinden, wo ihr Limit sei und was der Kopf leisten könne, wenn die Beine eigentlich schon lange nicht mehr wollen.
Aktuell scheinen Körper und Geist noch tadellos zu funktionieren. Nicole Reist nähert sich Tritt um Tritt der amerikanischen Ostküste. «Je schneller ich in Annapolis ankomme, desto mehr Zeit bleibt für die Erholung für die weitere Saisonplanung», kündigte sie im Vorfeld schon an.
Denn wenn sie im Ziel ist, dann ist vielleicht das Race Across America vorbei, aber noch lange nicht die Saison. In sechs Wochen nimmt Reist den Sieg am Race Around Austria ins Visier und Ende August jenen an der Tortour, dem Rennen rund um die Schweiz. Beide Rennen hat sie schon gewonnen, so wie sie seit zehn Jahren jedes Rennen für sich entschieden hat, an dem sie am Start stand.
«Gib dein Bestes! Und wenn du damit fertig bist, übertriff dich selber!» Nicole Reist bleibt ihrem Motto treu.