Kitzbühel im Januar 1969: Lokalmatador Karl Schranz schwingt im Ziel ab, überzeugt, die Hahnenkamm-Abfahrt gewonnen zu haben. Der Sieg am Heimrennen wäre die nächste Sternstunde des damaligen Dominators im Abfahrtssport.
Doch was steht da auf der Anzeigetafel? Rang 2, hinter dem Schweizer Jean-Daniel Dätwyler. Und das, obwohl Schranz bei der Zwischenzeit vor der Hausbergkante noch über eine Sekunde vorn lag.
«Nicht schon wieder», denkt sich Schranz, der ein Jahr zuvor nach seinem Olympia-Goldlauf in Grenoble disqualifiziert wurde. «Als ich in Kitzbühel im Ziel stand, und es hiess, ich sei nur Zweiter, da hatte ich alles satt», erzählt der heute 80-Jährige vor einigen Jahren dem «Spiegel».
Das deutsche Magazin berichtet weiter, Schranz sei anschliessend stocksauer ins Hotel gestapft. Und dabei von einem jungen Schweizer verfolgt worden, der ihn immer wieder angefleht habe: «Karl, bitte, bleib doch stehen!»
Dieser junge Schweizer, das war kein Geringerer als Sepp Blatter. Derjenige Blatter, den man als langjährigen FIFA-Präsidenten mit Fussball, aber ganz sicher nicht mit dem Ski-Weltcup in Verbindung bringt. Doch bevor Blatter 1974 zum Fussball-Weltverband wechselt, arbeitet er für die Schweizer Uhrenmarke Longines als Vizedirektor im Marketing. Longines ist damals wie heute offizieller Zeitmesser im Ski-Weltcup, Blatter reist als Chef einer mehrköpfigen Crew mit dem Skizirkus durch Europa.
Also Anruf bei Sepp Blatter (88): Wie lief das 1969 wirklich in Kitzbühel?
Dass er Schranz vom Zielraum Richtung Fahrerhotel hinterher lief, verneint Blatter. Aber ja, in diesem Rennen sei bei der Zeitmessung einiges schiefgelaufen.
Seit jeher läuft die Zeitmessung an Skirennen auf drei Ebenen. Zwei voneinander unabhängige elektronische Systeme. Und dann wird zusätzlich mit Chronographen per Hand gestoppt. Bei Schranz, so Blatter, habe bei der Zieleinfahrt die Lichtschranke nicht funktioniert. Und der manuelle Zeitmesser habe schlichtweg geschlafen.
«Wir ahnten, dass da etwas nicht stimmt. Bei der Kontrolle der Zeitmessung mit Datum und Uhrzeit bei Start und Zieleinfahrt wurde dann klar: Der Sieger heisst Karl Schranz», erzählt Blatter.
Schnell habe er jemanden losgeschickt, um den enttäuschten Schranz im Hotel über das Missgeschick zu informieren und ihn zurückzuholen für die Siegerehrung. Gleichzeitig habe man den Schweizer Dätwyler, der voller Freude über den Kitzbühel-Triumph schon mehrere Gläser Champagner intus hatte, auf den Boden der Tatsachen zurückholen müssen.
«Der Schranz war lange Zeit nicht zu beruhigen, irgendwann hat er die Entschuldigung dann angenommen», so Blatter. Obendrein habe es für den Österreicher eine Uhr als Wiedergutmachung gegeben.
Aber da sei ja noch die versammelte Presse gewesen, der man den «riesigen Schlamassel» habe erklären müssen. Longines-Chef Luc Niggli schickt Blatter an die Pressekonferenz, weil dieser als ehemaliger Pressechef der Schweizer Sportverbände Erfahrung mit den Journalisten hatte. Blatter also bereitet sich auf seinen ersten grossen Auftritt als Sportfunktionär in der Öffentlichkeit vor – und sagt dann den fast schon ikonischen Satz: «Meine Damen und Herren, die Zeiten ändern sich!»
Übrigens: Das Missgeschick scheint Blatter nicht geschadet zu haben. Er trage, erzählt er stolz, seit einigen Jahren die goldene Ehrennadel der Stadt Kitzbühel.