Da kamen Erinnerungen hoch. Dieser Schrei, diese Gesten von Odermatt im Zielraum der Saslong – man fühlte sich in den Februar letzten Jahres zurückversetzt, in den Zielraum der WM-Abfahrt in Courchevel. Hier wie dort wusste er, dass ihm Aussergewöhnliches gelungen war – dort damals in Savoyen war es die Fahrt zum Titelgewinn, hier im Grödnertal dominierte er auf einer Strecke, die für ihn über die Originaldistanz eine besondere Herausforderung darstellt. «Es bedeutet mir sehr viel. Val Gardena mit dem Start ganz oben ist wohl das Rennen, bei dem ich mir einen Sieg am schwierigsten vorgestellt hätte», erklärte der 27-jährige Nidwaldner danach.
Dies liegt daran, dass es da diesen obersten Streckenteil gibt, der mit seinen Gleitpassagen nicht eben auf die grössten Stärken Odermatts zugeschnitten ist. Dennoch gewann er – und zwar deshalb, weil ihm, wie damals in Courchevel, die perfekte Fahrt gelungen war, während der er «für seine Verhältnisse» sogar in den ersten Abschnitten schnell unterwegs – und auch das Material perfekt hergerichtet war.
Der grosse Aufwand, den sie bei seinem Ausrüster Stöckli in den Tagen zuvor mit den umfangreichen Tests betrieben hatten, zahlte sich aus. Vor allem aber gewann Odermatt, weil er die aus fahrtechnischer Warte schwierigste Stelle, die Ciaslat-Wiese, am besten meisterte und dort die zeitliche Differenz zu seinen ersten Verfolgern schuf.
Odermatt kehrte nicht nur dank seiner Technik ein weiteres Mal den Meister heraus. Passagen wie die Ciaslat erfordern auch viel Gespür. Gefordert ist die Fähigkeit, sich den Gegebenheiten anzupassen, die richtige Lösung zu finden, innert Sekundenbruchteilen Entscheide zu treffen. Renninstinkt nennt sich sowas – und Odermatt hat jede Menge davon, mit allergrösster Wahrscheinlichkeit mehr als alle seine Konkurrenten.
Trotz des Schreis, trotz des Gefühls, die perfekte Fahrt gezeigt zu haben, konnte sich Odermatt seines Sieges lange nicht sicher sein. Die für die Saslong typischen Veränderungen bei der Pistenbeschaffenheit während eines Rennens gabs auch diesmal. Und auch diesmal nutzten Fahrer mit höheren Startnummern die Gunst der Stunde – ohne allerdings auf den ersten vier Positionen der Rangliste für den Umsturz zu sorgen.
Odermatt siegte mit 45 Hundertsteln Vorsprung, doch dahinter reihten sich die Nächstbesten praktisch im Hundertstel-Takt ein. Wäre von Allmen drei Hundertstel langsamer gewesen, wäre es nichts geworden mit dem zweiten Podestplatz im Weltcup nach jenem Ende Januar. In Garmisch hatte er im zweiten Super-G mit Rang 3 auch auf oberster Ebene eine erste Duftmarke gesetzt.
Stefan Rogentin belegte Platz 10 und egalisierte seine zweitbesten Ergebnisse in Weltcup-Abfahrten. Zwei Positionen hinter dem Bündner reihte sich Lars Rösti ein. Der Berner mit der Nummer 34 war einer, der bei den Führenden im besonderen Mass den Puls hochschnellen liessen. Die Zwischenzeit-Messung vor der Ciaslat hatte er mit 86 Hundertsteln Vorsprung auf Odermatt passiert. Ein Fahrfehler liess die ganz grosse Überraschung zwar platzen, doch Rang 12 kommt für Rösti gleichwohl einem Abfahrts-Bestwert auf Weltcup-Stufe gleich. Tags zuvor hatte er, der sich als einstiger Junioren-Weltmeister sehr lange schwertat, schon im Super-G mit Rang 8 überzeugt. Auch dem 21-jährigen Livio Hiltbrant gelang mit Platz 17 ein starkes Ergebnis.
Auf ebendiesem «Ciaslat-Wellblech» distanzierte Odermatt von Allmen gleich um 88 Hundertstel. Von Allmen seinerseits legte die Basis zu Rang 2 mit einer gelungenen Fahrt im obersten Streckenteil. Geschafft war damit wie vor zwei Wochen in Beaver Creek, Colorado, auch in der zweiten Abfahrt dieses Weltcup-Winters der Doppelerfolg - auf der Saslong, die den Schweizern in jüngster Vergangenheit meist die kalte Schulter gezeigt hatte.
14 Jahre mussten vergehen, bis es endlich wieder klappte mit einem Schweizer Abfahrtssieg auf der WM-Piste von 1970, seit Silvan Zurbriggens Erfolg. Im Winter danach dominierte Beat Feuz im Super-G. Das wars dann gewesen bis zu diesem Samstag.
Odermatt kam zu seinem dritten Sieg in diesem Winter, dem dritten auch in einer Abfahrt nach seinem Double Anfang Jahr in Wengen. Insgesamt war er zum 40. Mal Erster im Weltcup, womit er mit dem Schweizer Rekordhalter Pirmin Zurbriggen gleichzog. Zudem übernahm er die Führung in der Gesamt- und in der Disziplinenwertung.
Der Beste ist also wieder dort, wo er hingehört. Die Ausfälle im Riesenslalom sind endgültig getilgt. Odermatt ist bereit für die nächsten Herausforderungen. (nih/sda)
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