Ob Thierry Marie am Start zur 6. Etappe der Tour de France 1991 in Arras an Albert Bourlon gedacht hat? Wahrscheinlich nicht. Sein französischer Landsmann gewann 1947 das Teilstück zwischen Carcassone und Luchon, nachdem er 253 Kilometer solo unterwegs gewesen war. Das war zwar ebenfalls an einem 11. Juli, aber in einer ganz anderen Epoche des Radsports.
Marie hat 44 Jahre später nicht den Etappensieg im Kopf und auch nicht das Leadertrikot. Der Normanne will sich in seiner Heimat zeigen; das ist sein Vorhaben. Marie setzt alles daran, es in die Tat umzusetzen. 25 Kilometer sind absolviert, als ihm die Flucht gelingt. Marie nutzt den Moment, als nach einem Zwischensprint das Tempo im Feld sinkt.
Niemand verspürt an diesem heissen Tag Lust, mit Marie zu fahren und das Feld lässt ihn gewähren. Also tritt der Fliehende in die Pedale. Und tritt und tritt und tritt. Weiter, immer weiter kurbelt Marie, bis er irgendwann fast 22 Minuten Vorsprung hat. Ehe das Feld dann doch irgendwann die Verfolgung aufnimmt, wird hinten geplaudert und gescherzt – und vorne trällert Thierry Marie mangels Fluchtgefährten alleine ein Lied.
Dem 28-Jährigen kommt auch der Umstand zu Hilfe, dass an diesem Tag niemand im Maillot Jaune fährt. Der Gesamtführende Rolf Sorensen war tags zuvor gestürzt und musste die Tour mit einem Schlüsselbeinbruch aufgeben. Und Greg LeMond, der nachrückte, wollte das Leadertrikot unter diesen Umständen nicht annehmen. Deshalb gibt es im Peloton kein Team, das die Verfolgung organisiert. «Ich spekulierte darauf», verrät der schlaue Marie. Rückenwind begünstigt seine Flucht. Langsam wird es eng für die Sprinter, wenn sie in Le Havre noch um den Tagessieg fighten wollen.
Aber kann Thierry Marie so eine Monsterflucht durchziehen? Er weiss es selber nicht. «So etwas habe ich zuvor noch nie versucht», sagt er im Ziel, «und ich fragte mich, ob ich das draufhabe. Also habe ich es probiert, ausgerechnet bei der Tour de France, und es ist aufgegangen.» Denn das Feld kommt tatsächlich nicht mehr an ihn heran. Nach einer 234 Kilometer langen Soloflucht erreicht Marie das Ziel in Le Havre als triumphaler Sieger. Und sein Vorsprung ist sogar so gross, dass er gleich auch neuer Leader der Rundfahrt ist.
Marie gilt eigentlich als Spezialist für Prolog-Zeitfahren, hat wenige Tage zuvor schon zugeschlagen und am ersten Tour-Tag das Maillot Jaune erobert. Wird aus ihm nun ein anderer Typ Rennfahrer? Marie winkt im Ziel ab: «So etwas mache ich kaum wieder: Es war so hart!»
Heute besitzt der Normanne eine kleine Gärtnerei, in seiner Freizeit sitzt er immer noch im Velosattel, «weil das gesund ist». Marie hat sechs Etappen der Tour de France gewonnen, trug das Leadertrikot und auch die Maglia Rosa am Giro d'Italia. «Aber diese eine Etappe ist legendär, damit bin ich im Geschichtsbuch des Radsports», weiss Thierry Marie. «Man spricht mich bis heute auf diesen Sieg an.»
Marie fährt nach seinem Husarenritt zwei Tage lang in Gelb, ehe er das Leadertrikot an Greg LeMond abgeben muss. Doch der Amerikaner schafft keinen vierten Gesamtsieg. Stattdessen triumphiert 1991 Miguel Indurain. Es ist der erste von fünf Tour-Siegen in Folge für den Spanier, der zudem auch zwei Mal den Giro d'Italia gewann.