Der Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Spion Sergei Skripal kann nur auf eine Weise interpretiert werden: Wladimir Putin zeigt dem Westen den Mittelfinger. Dass der russische Geheimdienst hinter diesem Anschlag steckt, ist so offensichtlich, dass Putin einen Bekennerbrief hätte hinterlassen können.
Stattdessen setzt Putin sein übliches Pokerface auf und streitet alles ab. Doch der russische Präsident behauptete einst auch, es gäbe keine russischen Truppen auf der Krim, die schwer bewaffneten Soldaten in der Ostukraine seien freiwillige Rebellen und die Hackerangriffe auf die USA aus der Luft gegriffene Propaganda. Wenn es ums Leugnen geht, ist Putin genauso unverfroren wie Trump.
Kurz vor seiner Wiederwahl als russischer Präsident strotzt Putin vor Selbstvertrauen. Die Wahlen sind ohnehin eine Farce. Der einzige ernsthafte Konkurrent, Alexej Nawalny, darf gar nicht antreten. Die Medien sind längst gleichgeschaltet, eine Opposition existiert nicht.
Putin will Russland wieder in den Stand einer Grossmacht erheben, die auf Augenhöhe mit den USA verhandeln kann. Dabei schreckt er vor nichts zurück. Die Krim hat er völkerrechtswidrig annektiert. Mit Bomben auf die Zivilbevölkerung hat er das Regime von Baschar al-Assad stabilisiert.
Kürzlich hat der russische Präsident mit neuen Atomwaffen geprahlt. Gemäss «Newsweek» lässt er seine Vasallen derzeit am TV darüber spekulieren, ob er in einem Krieg die Ukraine erobern und grosse Teile der Bevölkerung deportieren oder gar umbringen soll.
Aber weshalb lässt Putin seinen Geheimdienst einen ehemaligen Spion, der die Seiten gewechselt hat, vergiften? Einerseits wohl, um damit zu demonstrieren, dass er es kann und dass er dafür nicht belangt werden kann. Mit dem Mord an Alexander Litwinenko, der in London mit Polonium vergiftet wurde, hat er dies bereits einmal bewiesen.
Der Anschlag auf Skripal ist mehr als eine Machtdemonstration. Putin will ganz gezielt die europäischen Länder auseinanderdividieren. Grossbritannien ist im Begriff, die EU zu verlassen, der Brexit eine grosse Belastung für die europäische Einheit. Ein guter Zeitpunkt also, die ohnehin angezählte britische Premierministerin Theresa May noch mehr unter Druck zu setzen.
Den Ausgang der italienischen Wahlen wird Putin ebenfalls mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben. Der Sieg der EU-feindlichen Populisten wird für weitere Bauchschmerzen in Brüssel und für Freude in Moskau sorgen.
Putin ist seinem Ziel, die EU zu crashen, einen weiteren Schritt näher gekommen. Viel Gegenwehr von der anderen Seite des Atlantiks hat er nicht zu befürchten. Donald Trump zeigt nach wie vor wenig Lust, ernsthaft gegen die russischen Cyberattacken vorzugehen.
Dabei verschärft sich die Lage zusehends. Die «New York Times» hat soeben berichtet, dass das amerikanische Department of Homeland Security die Betreiber von Atomkraftwerken davor warnt, dass russische Hacker sich bei ihnen eingenistet haben. «Sie waren drin», sagt Eric Chien von der Sicherheitsfirma Symantec. «Sie haben die Möglichkeit, den Strom abzustellen.»
US-Präsident Trump reagiert nach wie vor lauwarm auf diese Angriffe. Zu sehr ist er mit dem Chaos im Weissen Haus beschäftigt und damit, sich den Sonderermittler Robert Mueller vom Hals zu halten. Dieser verlangt mittlerweile, dass die Trump Organisation Dokumente über allfällige Geschäfte mit Russland herausrückt, etwas, das Trump bisher ausdrücklich verweigert hat.
Allerdings könnte sich Putin auch verzockt haben. Trotz Brexit hat die EU überraschend geschlossen auf den Giftanschlag reagiert und Theresa May ihre Unterstützung zugesagt. Selbst aus Washington sind erstmals klare Warnungen zu hören. Die Gefahr aus Russland wird zunehmend nicht nur erkannt, sondern auch ernst genommen.
Das ist auch nötig. «Trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche sind Russlands militärische Macht und seine rücksichtslose Feindschaft gegen die Normen des internationalen Verhaltens eine Gefahr für den Frieden und die Demokratie in Europa», stellt Philip Stephens in der «Financial Times» fest. «Der russische Präsident glaubt, dass der Westen das Vertrauen in seine Werte verloren hat. Ein Versagen, entschlossen seinen Aggressionen entgegenzutreten, würde ihm recht geben.»