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Am Sonntag war Angela Merkel Gast des politischen Sonntagsinterviews beim ZDF. Wie stets nahm sie ruhig und sachlich Stellung zu den drängendsten Problemen der Gegenwart. Ja, bei der Flüchtlingsfrage zeichnen sich eine Entspannung und eine gesamteuropäische Lösung ab. Und nein, es gebe überhaupt keinen Grund, von der aktuellen Wirtschaftspolitik abzuweichen. Vor allem die Länder im Süden bräuchten nun mal Reformen, und wenn alle ihre Hausaufgaben machen würden, dann erledige sich der Rest von selbst.
Mit anderen Worten: Die Kanzlerin bekräftigte einmal mehr ihre Wirtschaftspolitik der «schwäbischen Hausfrau»: Den eigenen Haushalt in Ordnung halten und nicht mehr Geld ausgeben, als man einnimmt. Was für den eigenen Haushalt gesehen vernünftig erscheinen mag, ist volkswirtschaftlich eine Katastrophe. Weshalb?
Volkswirtschaftlich gesehen ist Europa nun mal kein Quartier mit 28 Häusern, die kaum etwas miteinander zu tun haben, wo man sich höchstens gegenseitig einen Liter Milch ausleiht und die Katze füttert, wenn der Nachbar in die Ferien fährt. Volkswirtschaftlich gesehen ist Europa ein eng gestricktes Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten, wo die Steuerpolitik des einen die Beschäftigungslage der anderen und der Zustand der gemeinsamen Währung alle betrifft.
Ein wichtiges Element dabei sind die Handelsbilanzen. Idealerweise sollten sich Exporte und Importe der Länder über einen längeren Zeitraum ausgleichen. Bis zur Jahrhundertwende war dies in Europa auch der Fall. Die Deutschen verkauften beispielsweise den Italienern chemische Produkte, Autos und Maschinen und konnten im Gegenzug dank der schwachen Lira billige Ferien am Mittelmeer machen. Alle waren so mehr oder weniger zufrieden.
Heute ist dieses Gleichgewicht gestört. Es drohen heftige Konflikte, die zur ernsthaften Gefahr für die europäische Einheit geworden sind. Der Grund dafür sind letztlich die deutschen Exportüberschüsse. Seit rund 15 Jahren steigen sie kontinuierlich an und haben letztes Jahr einen neuen Rekord erreicht: Im Umfang von 285 Milliarden Dollar haben die Deutschen mehr exportiert als importiert. Das entspricht 8,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), für Ökonomen ein fast unfassbar hoher Wert.
Zudem gibt es keinerlei Grund zur Annahme, dass sich daran etwas ändern wird. Allgemein wird erwartet, dass sich der deutsche Exportüberschuss auch künftig in der Gegend von deutlich über sieben Prozent des BIPs bewegen wird.
Nördlich des Rheins sieht man darin keinen Grund zur Aufregung. Deutsche Tüchtigkeit und ein tiefer Ölpreis hätten zu diesem neuerlichen Anstieg der Exporte geführt, wird abgewinkt, und überhaupt seien diese Überschüsse nötig, um den Wohlstand einer immer älter werdenden Gesellschaft zu sichern.
Diese Sicht wird von nicht-deutschen Ökonomen nur sehr bedingt geteilt. Die Rekordüberschüsse, so heisst es etwa beim Internationalen Währungsfond (IWF), seien primär das Resultat des schwachen Euro. Im Verhältnis zur Wirtschaftskraft habe Deutschland so eine Währung, die rund 20 Prozent unterbewertet sei und damit einen unfairen Wettbewerbsvorteil auf den globalen Märkten.
Auch politisch sorgen die deutschen Exportüberschüsse für Misstöne. Zum x-ten Mal hat kürzlich US-Präsident Barack Obama Berlin angemahnt, endlich etwas dagegen zu unternehmen. Der einflussreiche US-Politologe George Friedman vergleicht in seinem Buch «Flashpoints» die Exportmaschine gar mit der Wehrmacht des Dritten Reiches. Deutschland und Japan hätten, so Friedman, eine «alternative Ideologie zum Militarismus entwickelt, die wir ‹Ökonomismus› nennen können, das obsessive Verfolgen von nationalen Interessen mit wirtschaftlichen Mitteln».
Tatsächlich haftet den deutschen Exporten etwas Irrationales an. Es ist nämlich nicht so, dass der Mittelstand davon profitieren würde. So zeigte jüngst eine Eurostatistik auf, dass Deutsche im Vergleich zu Italienern und Franzosen durchschnittlich über weniger Vermögen verfügen. Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland zwar unter fünf Prozent gesunken. Gleichzeitig liegt jedoch die Anzahl der Beschäftigten, die in prekären Verhältnissen leben, bei 15 Prozent.
Sparwut und Exportwahn haben teilweise groteske Ergebnisse zur Folge. Marcel Fratzscher, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zeigt in seinem Buch «Die Deutschland-Illusion» auf, dass ein grosser Teil des mit Export verdienten Wohlstandes schlicht verschleudert wird, weil es unsachgemäss investiert wird:
Grotesk sind mittlerweile auch die Zustände bei der Europäischen Zentralbank (EZB) geworden. Auf den so genannten Target-2-Konten, einem virtuellen Ausgleich unter den Nationalbanken der Eurozone, besitzt die Deutsche Bank einen Überschuss von rund 600 Milliarden Euro. So lange es die Einheitswährung gibt, ist das ein virtueller Wert. Sollte der Euro jedoch kollabieren, dann müssen diese Konten abgerechnet werden – und Deutschland wohl mit einem Totalverlust rechnen.
Vor diesem Hintergrund ist der sich anbahnende Streit zwischen Italien und der EZB brandgefährlich. Es geht dabei um Folgendes: Die italienischen Banken sind massiv überschuldet und müssen saniert werden. Die neuen Bail-in-Klauseln der EZB erlauben nicht, dass der Staat die Banken rettet, zuerst müssen Aktionäre, Obligationäre und Sparer, die mehr als 100'000 Euro auf dem Konto haben, zur Kasse gebeten werden.
Deutschland setzt die EZB unter Druck, dass sie diese Bail-in-Regeln durchsetzt. In Berlin fürchtet man einmal mehr, dass letztlich der deutsche Steuerzahler die Zeche begleichen muss. Italiens Premierminister Matteo Renzi hingegen will um jeden Preis ein staatliches Bail-out der Banken. Er weiss, dass viele italienische Kleinsparer ihr Geld in Kassenobligationen investiert haben und bei einem Bail-in grosse Verluste erleiden würden.
Die politischen Folgen wären fatal: Renzi würde im Oktober ein für seine Regierung überlebenswichtiges Referendum verlieren und müsste Neuwahlen ausschreiben. Profitieren würden davon höchstwahrscheinlich Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord, die beide einen strammen Anti-EU-Kurs steuern. Ob die EU nach dem Brexit auch noch ein europafeindliches Italien verkraften könnte, ist zu bezweifeln.
Die Fixierung auf Exportüberschüsse hat Deutschland so zur gefährlichsten Nation Europas gemacht. Innenpolitisch wächst die Wut, vermeintlich für die Versäumnisse der Südstaaten aufkommen zu müssen. Aussenpolitisch werden die Deutschen einmal mehr für alle Unbill verantwortlich gemacht. Sollte die italienische Bankenkrise tatsächlich – wie dies etwa der ehemalige SNB-Präsident Philipp Hildebrand befürchtet – der Auftakt zu einer neuen Finanzkrise sein, dann werden wir auf Massendemonstrationen in Rom und Mailand bald Bilder von Angela Merkel mit Hitler-Schnauz und Nazi-Uniform sehen.