«Unsere Wirtschaft hat die Dreissigerjahre wiederholt; warum hat die Politik dies nicht getan?», diese Frage stellt Thomas Frank in den Mittelpunkt seines Buches «Listen, Liberal». Es ist eine beissende Kritik an der demokratischen Partei Amerikas und Franks kurze Antwort lautet: Weil die Linke die Arbeiter vergessen und die Klasse der Professionellen und Kreativen entdeckt hat.
Die Entwicklung hat in den Neunzigerjahren unter der Präsidentschaft von Bill Clinton eingesetzt. Clinton stammt zwar aus sehr einfachen Verhältnissen und hatte den Kampf gegen die Ungleichheit auf seine Fahnen geschrieben. Doch einmal im Weissen Haus setzte er nicht mehr auf Gewerkschaften, sondern auf die sich neu formierende Klasse der sogenannten Professionellen.
Dabei stützte sich Clinton auf ein Buch seines damaligen Arbeitsministers Robert Reich mit dem Titel «The Work of Nations». Reich hatte zu Beginn der Neunzigerjahre für die Amerikaner eine beruhigende Nachricht. Sie lautete: Habt keine Angst vor der Globalisierung. Dank einer guten Ausbildung und modernsten Technologien werden die meisten von euch zu den Gewinnern gehören.
Reich stellte den amerikanischen Arbeitnehmern in Aussicht, sie würden die «Symbolanalysten», die «Problemlöser» oder die «strategischen Broker» sein, denen die Zukunft in einer globalisierten Wirtschaft gehört. Gewerkschaften und Klassenkampf hingegen würden sich bald erübrigen: Die multinationalen Konzerne würden den harten Wettbewerb in einer globalisierten Weltwirtschaft nicht überleben und wegsterben.
Bei der neuen professionellen Klasse – dazu gehören Ärzte, Anwälte, Architekten und Ingenieure, aber auch Ökonomen, Politologen, Finanzexperten, und ja auch Journalisten – kam diese Botschaft sehr gut an. Bei den traditionellen Arbeitern hingegen weniger, und diese hatten auch gute Gründe.
Bildung war fortan das höchste aller Ziele. Clinton füllte seine Stäbe mit Absolventen von Eliteuniversitäten wie Harvard, Yale oder Stanford und schmückte sich auch mit dem einen oder anderen Nobelpreisträger. Nur «the best and the brightest» waren ihm gut genug.
Für die professionelle Klasse zählt Leistung, nicht Solidarität. Die Gewerkschaften gerieten immer mehr auf ein Abstellgleis, und wer arm war, war letztlich selber schuld: Er hatte in der Schule versagt. Es entstand so eine neue Zweiklassen-Gesellschaft, die Frank wie folgt schildert:
Bill Clinton gilt heute als ein Held der Linksliberalen. Er hat einer «rechtsextremen Verschwörung» die Stirn geboten und einer republikanischen Hexenjagd widerstanden. An seine Politik hingegen erinnern wir uns nur verschwommen. Für die amerikanischen Industriearbeiter war sie ein Desaster.
Heute noch bezeichnet er den Freihandelsvertrag mit Kanada und Mexiko, Nafta, als sein herausragendes politisches Vermächtnis. Für die «blue collar worker» sieht die Bilanz weniger glorreich aus. Rund 700'000 Industriejobs gingen wegen Nafta verloren.
Wer seinen Arbeitsplatz behalten konnte, musste massive Lohneinbussen in Kauf nehmen, die mit der Drohung des Managements «Sonst zügeln wir nach Mexiko» rücksichtslos durchgesetzt wird. Es gibt einen Grund, weshalb Donald Trump mit seiner Mauer gegen Mexiko so viel Beifall erhalten hat.
Nebst Freihandel hat Clinton der traditionellen Wählerschaft der Demokraten mit zwei weiteren Dingen grossen Schaden zugefügt. In seiner Amtszeit ist die Anzahl der Menschen – hauptsächlich schwarze Männer –, die in Gefängnisse eingesperrt wurden, explodiert. Heute gebe es in US-Strafanstalten mehr schwarze Insassen als es einst Sklaven gab, stellt Frank fest.
Ebenso rücksichtslos hat Clinton den Sozialstaat zurückgestutzt. Die eh schon mickrigen Sozialleistungen wurden nochmals gekürzt und mit einer Pflicht zur Arbeit verbunden. Die Folgen waren ernüchternd: «Bill Clintons Sozialstaats-Reform hat die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben – will heissen: mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen – massiv vergrössert», stellt Frank dazu fest.
Wenn wundert es, dass diese Politik zu einer Entfremdung zwischen den Demokraten und ihrer traditionellen Basis führte? Die Partie, die sich gerne als Stimme des kleinen Mannes darstellt, verlor die Unterstützung eben dieses kleinen Mannes. Viele wechselten zu den Republikanern oder blieben den Wahlurnen fern.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat ein weiteres Buch die Politik der Demokraten stark beeinflusst. Es wurde vom Wirtschaftsgeografen Richard Florida geschrieben und trägt den Titel «The Rise of the Creative Class». Florida beschreibt darin die logischen Nachkommen von Reichs «Symbolanalysten». Kreativ waren nicht nur Künstler, sondern in Floridas Definition auch IT- und Finanzspezialisten, vorausgesetzt, sie haben die richtige Ausbildung.
Die Demokraten verliebten sich in Floridas neue Kreative und machten sie zur Anti-These der Republikaner. Silicon Valley war nun fest in demokratischer Hand, und selbst die Banker der Wall Street verloren ihre Berührungsängste.
Im Verbund mit den Demokraten waren die Kreativen die Champions von Cleantech, bauten Radwege in zerfallende Industriestädte und engagierten sich für die Ärmsten in der Dritten Welt. Der amerikanische Industriearbeiter ging dabei irgendwie verloren. «Sicher, die vulgären Republikaner boten massive Steuererleichterungen an, aber im Zeitalter der Kreativität wird davon ausgegangen, dass das städtische Theater und die selbstgemachten Cupcakes den Weg zum Wohlstand öffnen», stellt Frank zynisch fest.
Musterbeispiel der schönen neuen Kreativwelt ist Boston. Dort findet man geballt alles, was das Herz des Hipsters freut: Bildung, Startups und Cleantech. Auf der anderen Seite des Charles River sind in Cambridge zwei der bekanntesten Universitäten der Welt angesiedelt, Harvard und das MIT.
Im Sommer fährt man auf die Insel Martha’s Vineyard und trifft dort mit ein bisschen Glück auf die Clintons oder die Obamas. «Boston ist der Ort, den alle nachahmen wollen», schreibt Frank. «Es ist die Stadt, in der alles funktioniert, reibungslos und erfolgreich.»
Aus der Sicht der traditionellen Arbeiterschaft sieht das Bild von Boston allerdings ein wenig anders aus. «Boston ist die Hauptstadt der beiden Industrien, die im Begriff sind, den amerikanischen Mittelstand in den Ruin zu treiben: Ausbildung und Medizin», so Frank. «Beide überwälzen ihre Kosten auf alle und diese Kosten steigen stärker als die Löhne.»
Barack Obama machte
dort weiter, wo Bill Clinton aufgehört hatte. Auch er war ein Fan der kreativen
Professionellen, schliesslich ist er Absolvent der renommierten Harvard Law
School. Auch er stopfte das Weisse Haus voll mit den Klügsten und den Besten.
Und auch er hat keine Berührungsängste mit der Wall Street, schliesslich sind
in seiner Sicht Banker nicht rücksichtslose Ab-
zocker, sondern kreative
Finanzgenies.
Darin liegt für Frank die Ursache, dass Obama so zögerlich auf die Finanzkrise reagiert hat. Bei seinem Amtsantritt hätte er die Möglichkeit gehabt, die Deregulierung – die wohlgemerkt unter Clinton stattgefunden hat – wieder rückgängig zu machen und die Banken in die Pflicht zu nehmen. Das wäre durchaus im Sinne seiner Wählerinnen und Wähler gewesen. Stattdessen investierte Obama hunderte von Milliarden Dollar in die Rettung der Banken.
Später rechtfertigten sich die Demokraten mit dem Argument, die Republikaner hätten ihnen keine andere Wahl gelassen. Politik sei wie ein Tanker, ein Kurswechsel sei mühsam und langwierig. Für Frank sind dies alles faule Ausreden. «Es ging nicht darum, dass der Tanker nicht zu manövrieren war, oder dass dumme Idealisten unrealistische Forderungen stellten», schreibt er. «Der Grund lag darin, dass sie diese Dinge nicht machen wollten.»
So gesehen ist das Scheitern von Hillary Clinton keine Überraschung mehr. Auch sie ist voll auf dem «Kreativen-Trip». Auch sie ist davon überzeugt, dass Demokraten die besseren Menschen sind und dass ihnen deswegen die Zukunft gehört. Nichts illustriert dies besser als Clintons Begeisterung für Mikrokredite, die Kleinstkredite, die meist an Frauen der ärmsten Bevölkerung gewährt werden. Populär gemacht hat sie Muhammad Yunus in Bangladesch, der dafür auch den Nobelpreis erhalten hat.
Warum Mikrokredite bei den Kreativen so viel Begeisterung auslösen, beschreibt Frank wie folgt: «Sie sind der perfekte Ausdruck des Clintonismus. Sie bringen die Interessen der Hochfinanz zusammen mit einer Rhetorik, die wunderbar idealistisch tönt. Mikrokredite machen jede Menge von Networking, Tugend-suchen und Profit-machen unter den Geldgebern möglich, ohne dabei die Machtstrukturen zu verändern.» Nur einen Haken hat das Ganze: Mikrokredite sind, wie es sich inzwischen herausgestellt hat, ein gewaltiger Flop.
Thomas Frank kommt daher zum wenig schmeichelhaften Fazit: Die Demokraten haben ihre traditionelle Wählerschaft verraten und verkauft. Sie haben zwar stets von Ungleichheit geschwafelt, aber nichts dagegen unternommen. Sie haben Freihandel gefördert, die Banken gerettet, den Wohlfahrtsstaat gekappt und die Gefängnisse gefüllt – all dies im Namen einer progressiven kreativen Klasse. Schlimmer noch: «Sie verbinden Selbstgerechtigkeit und Klassenprivilegien in einer Art, die den meisten Amerikanern den Magen umdreht», so Frank.
Soweit die vernichtende Kritik von Frank. Lässt sie sich auf die Schweiz übertragen? Sind SP und Grüne ebenfalls eine vom Volk entfremdete Elite, wie uns die Köppels und Somms dieses Landes weismachen wollen? Die kurze Antwort lautet: Nein.
In der Schweiz ist die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten anders verlaufen als in den USA. Den wirtschaftlichen Niedergang des Mittelstandes hat es nicht gegeben, bisher wenigstens. Das hat viel mit den Linken zu tun.
SP und die Gewerkschaften haben zwar den bilateralen Verträgen mit der EU zugestimmt. Aber sie haben dabei die flankierenden Massnahmen durchgesetzt, die ein Lohndumping wie in den USA verhindert haben. Traditionelle Industriestädte wie Winterthur oder Biel sind nicht zur vergleichen mit Dayton (Ohio) oder gar Detroit (Michigan).
Auch hierzulande wird Bildung gross geschrieben, und Hochschulen wie die ETH und die Universitäten von Zürich und St.Gallen geben sich alle Mühe, mit Harvard & Co. mitzuhalten. Dank des dualen Bildungssystems gibt es bestens ausgebildete Facharbeiter, die auf dem Arbeitsmarkt begehrt sind und anständig verdienen.
Die zentrale Warnung von Frank gilt jedoch auch für die Schweiz: Die wachsende Ungleichheit ist Gift für eine demokratische Gesellschaft. Mit Technik und Moral ist dagegen nicht anzukommen. Wenn grosse Teile einer Gesellschaft das Gefühl haben, ausgeschlossen und abgehängt zu werden, dann wird sich das früher oder später rächen. Was die Wahl von Donald Trump nun eindrücklich bewiesen hat.