Die Armut in der Welt rückt dank Oxfam wieder in den Fokus. Dazu errechnet die kapitalismuskritische Hilfsorganisation jedes Jahr pünktlich zum Weltwirtschaftsforum in Davos, wie viele Super-Milliardäre über genauso viel Geld verfügen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Der Report sorgt aber auch für Widerspruch – vor allem von marktliberalen Experten. Kann die Studie dem standhalten? Ein Faktencheck zentraler Kritikpunkte.
BEWERTUNG: Falsch.
DIE FAKTEN: In den Berichten weist Oxfam regelmässig darauf hin, dass die krasseste Form von Armut weltweit insgesamt zurückgeht – so auch diesmal: «Eine der grossen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte war der enorme Rückgang der in extremer Armut lebenden Menschen, die von der Weltbank als 1.90 US-Dollar pro Person und Tag definiert wurde.» Das lobt die Organisation in einer Stellungnahme als «völlig wahr und absolut grossartig». Allerdings kritisiert sie, dass sich dieser Trend nunmehr abschwächt – und bezieht sich dabei auf den Armutsbericht der Weltbank. Danach wird vor allem in den afrikanischen Regionen südlich der Sahara «extreme Armut zunehmend zu einem Problem».
Oxfam argumentiert, dass noch mehr Menschen aus ihrer schlimmsten Lage hätten befreit werden können, wenn sie in ähnlicher Weise vom wirtschaftlichen Erfolg profitiert hätten wie die Reichsten auf der Welt. Zudem wird beanstandet, dass viele Betroffene zwar nicht mehr extrem arm, aber doch weiterhin arm seien. Oxfam verweist darauf, dass fast die Hälfte der Weltbevölkerung von maximal 5.50 Dollar pro Tag lebe, weil ökonomischer Erfolg nur marginal dort ankomme.
BEWERTUNG: Ungenau. Die Zahlen zur Verteilung stimmen in der Tendenz. Die Quellen zu Armut und Reichtum miteinander zu vergleichen, hat allerdings einige Fallstricke.
FAKTEN: Wie kommt Oxfam zu der Kluft zwischen Arm und Reich? Grundlage für das Vermögen der ärmeren Bevölkerung sind die Daten des «Global Wealth Report» der Schweizer Grossbank Credit Suisse, das der Superreichen die jährliche Milliardärsliste des Magazins «Forbes».
Kritiker sehen darin aber einen Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Besonders stossen sie sich an der Berechnungsmethode für die ganz arme Bevölkerung. Die Credit Suisse definiert in ihrem Report Vermögen als die Summe aus privaten Finanzanlagen, Vorsorge und Sachwerten wie Immobilien – allerdings abzüglich der Schulden. Daraus die Definition von Armut abzuleiten, ist ihrer Meinung nach problematisch.
Eine Beispielrechnung: Nach dem Credit-Suisse-Report hätte der Hochschulabsolvent eines westlichen Industrielandes, der zwar einen lukrativen Job begonnen, aber noch Zehntausende Euro Schulden aus einem Studentendarlehen hat, weniger Vermögen als ein schuldenfreier Bettler in Bangladesch, der womöglich von 1.50 Dollar am Tag über die Runden kommen muss. Oxfam stelle – so die Kritik – den Job-Neuling deswegen ärmer dar als den extrem bedürftigen Menschen in einem Entwicklungsland. Das heisst: Den Allerärmsten würden auch Menschen zugerechnet, die hoch verschuldet sind – aber eben nicht arm.
Oxfam hält dagegen. Würde selbst das ärmste Zehntel der Weltbevölkerung aus der Rechnung herausgenommen werden (weil möglicherweise einige hoch verschuldete Menschen aus generell reichen Ländern in dieser Gruppe überproportional vertreten seien), ändere dies nichts an der grundsätzlichen Erkenntnis. Denn die ärmsten zehn Prozent hätten keinen grossen Einfluss auf das Gesamtvermögen der ärmeren 50 Prozent. Sogar vehemente Oxfam-Kritiker stellen fest, dass die ungleiche Verteilung des Vermögens weltweit massiv ist.
Oxfam bereitet die Zahlen durchaus medienwirksam auf. Laut Selbstbeschreibung will die Entwicklungshilfe-Organisation die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen von Armut beseitigen – und dabei vor allem «den Bedürfnissen und Anliegen der in Armut lebenden Menschen» Gehör verschaffen. Oxfam ist also eine Interessengruppe, die im Sinne ihrer Klientel argumentiert.
Zum Phänomen Armut gibt es seit jeher verschiedene Vorstellungen und Definitionen. So wurde etwa immer wieder Kritik daran laut, reine Einkommens- oder Vermögenswerte zur «Messung» zu verwenden. Entwicklungsexperten wiesen zudem darauf hin, dass es neben absoluter Armut – wo oft Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können – auch unterschiedlich empfundene Ausmasse «relativer» Armut gibt.
BEWERTUNG: Tendenz richtig, aber zu kurz gegriffen.
Die FAKTEN: Im Leitbild definiert sich Oxfam selbst nicht als antikapitalistische Organisation. Dennoch wird aus Veröffentlichungen und Stellungnahmen immer wieder deutlich, dass sie die ungleiche Vermögensverteilung als Effekt des freien Marktes betrachtet. Sie spricht sich gegen «eine extreme Form des Kapitalismus» aus.
Das marktliberale Institute of Economic Affairs (IEA) in London wirft Oxfam etwa vor, den Kapitalismus zu dämonisieren. So werde ignoriert, dass «Millionen Menschen wegen freier Märkte der Armut entkommen» seien. Das IEA argumentiert, den Reichtum der sehr Vermögenden zu mindern, führe nicht zu Umverteilung, sondern zu dessen Zerstörung.
Oxfam verteidigt sich: «Es gibt keinen Zweifel, dass Kapitalismus und Wirtschaftswachstum eine grosse Rolle darin spielen können, Menschen dabei zu helfen, sich aus der Armut zu befreien.» Allerdings will die Organisation darüber wachen, dass das System nicht nur für einige, sondern für alle Menschen einen Mehrwert bietet. (sda/dpa)