Sie
lehren auch an der Universität. Wie erleben Sie die Studenten?
Daniel Dedeyan: Erstaunlich. Anfangs dachte ich, ich müsste eine
längere Einführung in das Funktionieren der Märkte in der
Informationsgesellschaft halten. Das stellte sich als überflüssig heraus. Dank Smartphones
und Internet kennen sie die Eigendynamik der Kommunikationsprozesse aus eigener
Erfahrung.
Gleichzeitig
stellt man fest, dass die Menschen mit Smartphones und Internet verdummen. Die Politik
etwa wird immer mehr Reality-TV.
Die Geschwindigkeit der Kommunikation koppelt sich wohl von
dem ab, was unsere Hirne und die Gesellschaft verarbeiten
können. Für das Denken bleibt keine Zeit mehr.
Ist das der Grund für die Diskrepanz zwischen
der Gesetzgebung und der Realität, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
Nicht nur. Wir haben eine Regulierungswelle, die in
die falsche Richtung läuft. Nach jeder Krise wird stets mehr vom Gleichen
gefordert: Mehr Haftung, mehr Publizitätsnormen, mehr Transparenz, mehr
Kontrolle. Das macht das Recht nicht effektiver.
Ist das
nicht eine logische Folge davon, dass die Menschen heute generell mehr
Sicherheit wollen?
Es gibt verschiedene Formen der Absicherung. Bei
Haftungsklagen etwa kann es sehr lange dauern, bis die Gerichte entschieden
haben – und am Schluss gelingt der Beweis nicht oder es stellt sich heraus,
dass der Schuldige insolvent ist. Haftung bietet nur eine trügerische
Sicherheit.
Seit
der Finanzkrise werden vor allem die Kapitalmärkte sehr stark reguliert.
Das geschieht nicht
zuletzt unter politischem Druck. Und international ist Regulierung teils zum
Selbstläufer geworden, wenn man reguliert, weil die anderen regulieren.
Sind daran nicht die Exzesse der Banker in den
Nullerjahren schuld?
Wenn man einen Schuldigen sucht, dann kann man das so
sehen. Nur übersieht man dabei, dass die Nullerjahre eine Boomzeit waren, in
der alle über die Stränge schlugen. Alle bestärkten sich gegenseitig im Glauben,
dass die Bäume jetzt in den Himmel wachsen: die Medien, die Ratingagenturen, die
Analysten, die Marktteilnehmer, die Aufsichtsbehörden und die Regulatoren.
Niemand wollte die Gefahren sehen. Und wer auf sie hinwies, musste mit
negativen Konsequenzen rechnen. Man denke an die Entlassungen kritischer
Bankanalysten.
Aber gerade deswegen braucht es doch mehr
Regulierung und griffigere Gesetze?
Es geht nicht um mehr Regulierung, sondern um die
Qualität der Regulierung, wie ich ebenfalls in meinem Buch darlege. Mehr vom
Gleichen bringt uns nicht weiter.
Können
Sie das an einem Beispiel erläutern?
Um mehr vom Gleichen geht es aktuell im Gesetzgebungsprozess
zum neuen Finanzdienstleistungsgesetz: mehr Informationspflichten, Formulare, Prospektpflichten
und formale Prüfstellen, alles im Namen des Anlegerschutzes. Dass Anleger durch
mehr Papierflut und Bürokratie besser geschützt würden und informiertere
Entscheidungen treffen, ist zu bezweifeln. Das Box-Ticking, also das Abhaken
von Formalien, reduziert allenfalls das Haftungsrisiko.
All
dies geschieht im Namen der Transparenz, einem der wichtigsten Schlagwörter der
letzten Zeit. Alle wollen heute transparent sein. Was ist daran falsch?
Transparenz ist wichtig, aber sie ist zu einer
Ideologie geworden. Dabei wirkt Transparenz zum Beispiel nur bedingt gegen
Interessenkonflikte. Alle wussten vor der Krise um die Interessenkonflikte der
Analysten und Ratingagenturen, dennoch folgte ihnen die Herde der Anleger. Allgemein
ist die Entwicklung hin zu immer mehr Offenlegung verlaufen. Abgesehen von
immer weitergehenden Offenlegungspflichten unterliegen grössere Unternehmen in ihrer
Rechnungslegung heute dem Grundsatz der «True and Fair View». Sie legen also
alles auf den Tisch.
Deshalb
sind heute die Geschäftsberichte so komplex, dass sie praktisch niemand mehr
versteht.
Das ist das eine Problem. Das andere besteht darin,
dass sich gerade wegen dieser Transparenz die Marktschwankungen erhöht haben.
Weshalb?
Zum einen führt eine kurzfristigere Berichterstattung
oft zu einem kurzfristigeren Entscheidungshorizont im Management. Zum anderen wurde
die Erfahrung gemacht, dass sich bei einer marktnahen Bewertung von Anlagen des
Unternehmens jede Veränderung im Markt auf die Bilanz auswirken kann. Dies kann
in Boomzeiten zu höheren Ausschüttungen führen und in Krisenzeiten plötzlich
eine höhere Kapitalunterlegung erfordern und Notverkäufe auslösen, die wieder auf
den Marktpreis drücken, was wiederum auf die Bilanz zurückwirkt und so weiter.
So entsteht eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale. Das hat man in der
Finanzkrise erlebt. Deshalb ist man im Rahmen der internationalen
Rechnungslegungsstandards teilweise wieder auf weniger marktnahe Bewertungsmethoden
zurückgekommen.
Zurück
zu den Zeiten, in denen Unternehmen stille Reserven äufnen konnten, geheime
Fettpolster, die bloss Insidern bekannt waren?
Stille Reserven wurden in den letzten Jahrzehnten
verteufelt. Jetzt aber merkt man wieder, dass Unternehmen ein Fettpolster
brauchen. Wenn man alles auf den Tisch legt, dann kommen zum Beispiel die
Aktionäre und verlangen höhere Dividenden.
Mit stillen Reserven hingegen konnten Unternehmen eine schwierige Phase
überbrücken und grosse Kursschwankungen verhindern. Gewinne zu verstecken, kann heute nicht
mehr die Lösung sein. Aber
Unternehmen brauchen einen gewissen Puffer gegenüber den Marktbewegungen. Das
ist in der Finanzkrise wieder bewusst geworden.
Mehr
Transparenz heisst somit mehr Spekulation und mehr Unsicherheit?
Und mehr Bürokratie sowie ein «information overkill».
Beispielsweise muss man bereits eine Beteiligung von drei Prozent an einem an
der Börse kotierten Unternehmen melden. Dies soll heimliche Übernahmen
verhindern. Nur: Ein Erwerb oder eine Veräusserung von drei Prozent bedeutet wenig.
Deshalb haben wir heute eine Flut von nutzlosen Meldungen.
Modern
ausgedrückt: Es gibt sehr viel Informations-Lärm, aber wenig wichtige Signale.
Ja, es gibt Studien, die belegen, dass die meisten dieser
Meldungen für den Markt keine Bedeutung haben. Trotzdem hat man die
Meldepflicht immer weiter noch ausgeweitet, man denke an die tiefere
Meldeschwelle und die Meldung von Derivaten mit Barausgleich, auch wenn keine
Absicht besteht, am Ende Aktien zu übernehmen. Heute haben wir die absurde
Situation, dass wenn man alle Meldungen zusammenzählt, im Extremfall eine
Beteiligung von über 400 Prozent am Unternehmen angezeigt wird.
Was
sind weitere negative Folgen der Transparenz-
Ideologie?
Der Geschäftsbericht einer Bank kann heute 700 Seiten stark
sein. Wie Sie schon angedeutet haben, hat da kaum noch jemand den
Durchblick, nicht einmal die Analysten. Die Annahme: Je mehr Informationen,
desto effizienter werden die Märkte, hat sich nicht bestätigt. Wie schon der
Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller gezeigt hat, sind die Kapitalmärkte
trotz immer weiter ausgedehnter Publizitätsnormen seit Ende des 19. Jahrhunderts
bis heute weder sicherer noch rationaler geworden. Und auch der
Informationsgehalt der Aktien- und Bondpreise bezüglich künftiger
Gewinnentwicklungen ist trotz immer weitergehender Informationspflichten seit
den 1960er Jahren nicht messbar gestiegen.
Was sind die Folgen?
Mit immer mehr und schnellerer Information
nimmt vielmehr die Kapazität zur Informationsverarbeitung ab, nimmt exzessive
Volatilität der Märkte zu und «zersplittern» die Märkte in unübersichtliche
Teilmärkte. Die schweizerische Finanzmarktaufsicht hat in ihrem Bericht zur
Finanzmarktkrise festgestellt, dass die Komplexität der von den
Finanzmarktregulierung bereitgestellten Informationen die Fähigkeit der
Bankmanagements und der Finanzmarktaufsicht zur Risikobeurteilung überstiegen
habe. Nicht nur die Kapazität zur Informationsverarbeitung hat sich als
beschränkt erwiesen, sondern auch die Darstellbarkeit der Komplexität der
Risiken. Transparenz kommt hier an ihre Grenzen.
Trotzdem:
Banker, die sich verzocken und vom Steuerzahler gerettet werden, müssen keine Konsequenzen
befürchten. Der ehemalige UBS-Chef Marcel Ospel und der ehemalige CS-Chef Lukas
Mühlemann hinterliessen Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe – und konnten
sich als sehr reiche Männer zurückziehen.
Ich glaube nicht an die Haltung: Top-Manager für
Milliardenschäden einklagen oder ins Gefängnis werfen, dann wird alles gut.
Moderne Unternehmen sind unglaublich komplex, und es ist meist unmöglich,
Verantwortlichkeiten genau zu lokalisieren. Personenhaftung und -bestrafung leisten
nicht, was man sich von ihnen erwartet. Entweder greifen sie fast nie oder sie treffen
die Falschen. Und sie haben hohe soziale Kosten. Man denke an jahrelange
Unsicherheit für alle während der Prozesse, an zerstörte Karrieren trotz eines
späteren Freispruchs und an Informationen über Missstände, die man im
Unternehmen aus Angst vor einer Haftung Einzelner nicht weiterleitet oder nicht
erhebt. Unberechenbare Haftungsrisiken und drakonische Sanktionen können dazu
führen, dass Unternehmen keine Risiken mehr eingehen, und das ist für eine Marktwirtschaft
fatal.
Wie
wollen Sie erreichen, dass Banker nicht mehr im Finanzkasino auf Kosten der
Steuerzahler zocken können?
Normen, die das System robuster machen, wie zum
Beispiel Eigenmittelvorschriften und eine begleitende, lernende Marktaufsicht
wirken in diese Richtung. Generell hängt eine wirksame Regulierung von einem ausgewogenen
Verhältnis zwischen Normen der Publizität, rechtlichen und nicht-rechtlichen Kontrollmechanismen
und Normen der Verantwortlichkeit ab. Für eine effektivere Regulierung braucht es
ausserdem eine Veränderung im Denken. Wir müssen besser verstehen, wie Märkte
funktionieren. Wir gehen immer noch davon aus, dass Märkte grundsätzlich auf
ein Gleichgewicht hinsteuern. Wenn nicht, dann greift der Regulator ein.
Inzwischen
gibt es aber die so genannte «Behavioral Finance», die davon ausgeht, dass
Menschen sehr oft auch irrational handeln.
Auch für die meisten Vertreter der Behavioral Finance geht
es letztlich darum, ein gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie kommen
deshalb zum gleichen Schluss, der heisst: Mehr Informationen, mehr Kontrolle,
mehr Abschreckung und Anreize.
Wie
sieht Ihre Alternative aus?
Die Finanzkrise hat gezeigt, dass das
Gleichgewichtsmodell der Märkte zu kurz greift. Märkte haben eine Eigendynamik,
die sich selbst verstärkt. Dieses Phänomen untersuchen beispielsweise Forscher
an der ETH. Das sind keine Ökonomen, sondern Physiker. Sie analysieren die
Netzwerke, die in einem Markt entstehen, und kommen dabei zu anderen Schlüssen.
Nämlich?
Sie ahmen beispielsweise das Verhalten von Marktteilnehmern
in Computermodellen nach. Dabei stellen
sie fest: Mit zunehmender Vernetzung wird ein System immer komplexer,
unberechenbarer, instabiler und entwickelt eine Eigendynamik. Zunehmende
Vernetzung birgt nicht nur enorme Chancen, sondern auch ungeahnte Risiken. Vor
diesem Hintergrund muss es bei der Regulierung nicht um die Wiederherstellung von
Gleichgewichten zwischen einzelnen Parteien, sondern um die Stabilisierung des
Systems, um die Identifikation von Netzwerken und um die Unterbrechung von
Kaskadeneffekten gehen.
Ist
das mehr als eine akademische Übung?
Sicher. Wir haben eine Welt vor der Nase, die nichts mit
dem traditionellen Gleichgewichtsmodell zu tun hat. Zum einen stellen wir dabei
fest, dass viele im Recht gewachsene Strukturen gar nicht so schlecht sind.
Vieles, das wir für überholt gehalten haben, scheint sich heute wieder zu
bewähren. Zum anderen findet die Praxis zu pragmatischen Lösungen jenseits des
Gleichgewichtsdenkens, die aber zu wenig gewürdigt werden. Und schliesslich
weist die neue Sichtweise den Weg für künftige Regulierung.
Woran
denken Sie konkret?
Wir haben das am Beispiel der vorsichtigeren
Rechnungslegung gesehen. Ein weiteres Beispiel ist das gewachsene Nebeneinander
von staatlicher Regulierung und Selbstregulierung, die aber heute unpopulär ist
und international an Boden verliert. So hat die Selbstregulierung der Börse im
Austausch mit den Marktteilnehmern im Allgemeinen zu einem hohen Grad der Befolgung
der Börsenregeln geführt. Gerade in der Praxis der Börsenorgane ist erkannt
worden, dass zu viele Informationen kontraproduktiv sein können. Man denke an
die zu frühe Mitteilung einer Sanierung, welche die Sanierung allenfalls verunmöglicht.
Ebenso war das Unterbrechen des Handels bei jähen Kurseinbrüchen lange verpönt.
Inzwischen hat man eingesehen, dass es sinnvoll ist, genauso wie das Verbot bestimmter
Leerverkäufe in Krisensituationen.
Es gibt also auch sinnvolle Regulierung.
Dies sind Regulierungen, die stabilisierend
auf das System wirken. Allgemein brauchen wir eine Regulierung, welche die
unberechenbare Dynamik der Märkte berücksichtigt und zugleich Raum für
Lernprozesse lässt. Künftige Regulierung wird sich mit der zunehmenden
Vernetzung der Marktteilnehmer und aller Lebensbereiche beschäftigen müssen.
Noch zu wenig bewusst ist heute die Bedeutung von Datenschutz und anderen
Formen von Informationsunterbrüchen für die Stabilität des Systems.
Liegt das Problem nicht darin,
dass wir eine aufgeblähte Finanzwirtschaft haben und wir die Banken
zurückstutzen müssen?
Das ist schwierig. Die Zentralbanken pumpen ja massiv
billiges Geld ins System, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Die
Kritik an den globalen Banken ist so laut wie schon lange nicht mehr. Denken
Sie etwa an die Diskussionen um die Deutsche Bank.
Man kann die gewachsenen Strukturen nicht einfach
rückgängig machen. Was die Geiselhaft der Gemeinwesen durch Banken betrifft, welche
man wegen ihrer Bedeutung und Vernetzung nicht untergehen lassen kann, so kann
man sie mildern, wohl aber nicht ganz beseitigen. Doch die Finanzinstitute
werden sich neu erfinden müssen. Ich habe Zweifel an der
«Banken sind überflüssig»-These. Es ist ähnlich wie bei den Medien: Die
Leitmedien sind durch die Digitalisierung unter Druck geraten. Trotz Internet
und Onlineportalen werden wir jedoch nach wie vor Leitmedien brauchen, um den Echokammern
und Fake News etwas entgegenhalten zu können. Auch Banken werden kommunikative
Referenzpunkte im Kapitalmarkt bleiben.
In
letzter Zeit allerdings sind auch die Leitmedien diesbezüglich nicht allzu
erfolgreich.
Die Leitmedien scheinen im digitalen Zeitalter ihre
Funktion nicht zu verlieren, sondern zu verändern. Das dürfte in Zukunft auch
für die Banken gelten.
In
der Bankenwelt gibt es nun Fintech, also den Einzug digitaler Technologie. Dank
der Blockchain-Technologie werden die Intermediäre, die Zwischenhändler,
zunehmend überflüssig.
Auch die Banken investieren heute in Fintech und die Blockchain-Technologie.
Sie haben die Ressourcen, um eine entsprechende Infrastruktur aufzubauen.
Deshalb werden sie so schnell nicht verschwinden. Sie erhalten Konkurrenz, das fördert die
Innovation. Die Zukunft gehört wohl nicht nur einer Technologie, sondern einer
Vielfalt sich ergänzender und überlagernder Technologien und Institutionen.
Wie hat man sich eine solche Vielfalt vorzustellen?
Es wird zum Beispiel nicht nur an nachverfolgbaren Blockchains, sondern auch an vertraulichen
Netzwerken gearbeitet. Eine Vielfalt der Technologien ist nicht zuletzt um der
Stabilität des Systems willen zu wünschen. Innovativ sollte auf diesem Gebiet auch
die Regulierung sein.
Können Sie ein Beispiel von innovativer Regulierung nennen?
Der Bundesrat hat kürzlich postuliert, dass in
so genannten «sand boxes», also Sandkästen, mit Fintech experimentiert werden
darf. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.