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Schweiz könnte Öl- und Gasboykott gegen Russland verkraften

Doris Leuthard ist überzeugt: Schweiz könnte Öl- und Gasboykott gegen Russland verkraften

Jeden Tag fliessen aus Europa Hunderte Millionen Euro nach Russland für Öl und Gas. Die ehemalige Bundesrätin Doris Leuthard glaubt: Ein Boykott wäre verkraftbar. Einspringen wollen nun auch die USA.
26.03.2022, 10:34
Patrik Müller, Stefan Ehrbar, Remo Hess / ch media
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Die europäische Wirtschaft muss neu planen: Ein Schiff mit russischem Gas im Hafen von Bilbao, Spanien.Bild: keystone

Seit einem Monat tobt Putins Angriffskrieg, es sterben jeden Tag Menschen, die Welt schaut fassungslos auf die Gräueltaten in der Ukraine.

Seit einem Monat fliessen aber, wie wenn nichts wäre, weiterhin Abermilliarden von Euro und Dollar nach Russland, weil der Westen Putins Öl und Erdgas braucht - oder zu brauchen glaubt. Jeden Tag bezahlten die EU-Länder dieses Jahr mindestens 200 Millionen Franken für russisches Gas. Weil die Preise seit Kriegsausbruch gestiegen sind, waren es an einzelnen Tagen gar über 800 Millionen Franken. Aus der Schweiz fliessen laut Credit Suisse teils über 4 Millionen Franken täglich nach Russland.

Die EU braucht russisches Gas

Damit finanziert der Kreml, der sich sonst einschneidenden Sanktionen ausgesetzt sieht, seine tödliche Kriegsmaschinerie. Und das ist entscheidend: Putin hat in den letzten 20 Jahren wirtschaftspolitisch voll auf Öl und Gas gesetzt - und aus diesem Geschäft, das weiter brummt, stammt die Hälfte der gesamten Einnahmen des russischen Staates.

Ukraines Präsident Wolodimir Selenski fordert bei jeder Rede ein totales Embargo. Während die USA inzwischen eins beschlossen haben, eiert die EU herum. Sie sagt, sie wolle die Abhängigkeit von russischen Energieträgern «mittelfristig» reduzieren, aber sieht sich ausserstande, schon jetzt auf russisches Öl und Gas zu verzichten.

Deutschland tritt auf die Bremse

Das hat stark mit Deutschland zu tun, das 55 Prozent seines Erdgases aus Russland importiert. Der grüne Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck befürchtet «Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend», sollte dieser Import wegfallen.

Trotzdem: Der Druck wächst in Europa, russische Energieträger zu verbannen. Auch hierzulande. Es stellt sich die Frage: Könnte es sich die Schweiz leisten, auf fossile Energie aus Russland zu verzichten?

Eine Spezialistin auf diesem Gebiet ist die ehemalige Bundesrätin und Energieministerin Doris Leuthard (Mitte/CVP), die einst Verwaltungsrätin bei einem Stromunternehmen war. Zur «Schweiz am Wochenende» sagt sie:

«Die Schweiz ist in einer ungleich besseren Situation als Deutschland, weil bei uns der Anteil Gas am Energiemix rund 14 bis 15 Prozent ausmacht.»

Davon stamme zwar auch etwa die Hälfte aus Russland, «das liesse sich aber ersetzen». Laut Leuthard helfe dabei die Landesversorgung, die für vier Monate Öl und Erdgas vorrätig halte.

Alt Bundesraetin Doris Leuthard spricht anlaesslich der Gedenk- und Jubilaeumsfeier zum 200 Jahre Jubilaeum des Loewendenkmals am Dienstag, 10. August 2021 in Luzern. Das Loewendenkmal im Zentrum Luze ...
Energiespezialistin: Doris Leuthard relativiert die Abhängigkeit der Schweiz von russischen Energieträgern.Bild: keystone

Beim Öl wiederum sei es relativ einfach, alternative Produzenten zu finden. Leuthard: «Nebst den USA und Saudi-Arabien etwa Kanada, Norwegen und die Vereinten Arabischen Emirate.» Die Länder der Erdölvereinigung Opec könnten problemlos mehr fördern, um die Preise nicht zu sehr ansteigen zu lassen. «Aber derzeit wird halt aus der Not auch viel Geld gemacht», stellt Leuthard fest.

Erdgas ist problematischer als Öl

Öl liesse sich für die Schweiz also leicht anderswo beschaffen, beim Erdgas gäbe es zumindest für einige Monate keine gravierenden Probleme, aber danach? Leuthard sagt: «Leider hat man wegen der höheren Kosten wenige LNG-Terminals gebaut und diverse Pipeline-Projekte in anderen Staaten sind blockiert.» Mit LNG ist Flüssiggas gemeint, das unabhängig von Pipelines fliesst und mit Schiffen etwa aus den USA oder Katar importiert wird.

Sicht in einen Stollen mit einer Transitgas Pipeline, am Dienstag, 7. September 2021, in Urweid bei Innertkirchen. Gemaess der Gesellschaft SwissFlux ist die Schweiz bestens mit Infrastruktur ausgerue ...
Auch die Schweiz braucht russisches Gas: Transitgas-Pipeline in Urweid bei Innertkirchen.Bild: keystone

Während Leuthard für die Haushalte einen Verzicht für machbar hält, «auch wenn höhere Preise natürlich vielen Haushalten weh tun», sei die Ausgangslage für die Industrie schwieriger. Sie sagt:

«Für viele Unternehmen ist die Beschaffung von Gas zentral für die Produktion, und die höheren Preise beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit.»

Mittel- und langfristig müsse man die Situation unbedingt verbessern und mit LNG arbeiten, ergänzt Leuthard.

Die Credit Suisse relativiert die Bedeutung von russischem Gas für die Schweizer Wirtschaft: «Russisches Gas ist zumindest in den für die Wertschöpfung relevantesten Branchen kein wichtiger Inputfaktor», schreibt sie in einer aktuellen Analyse. Damit findet sich die hiesige Industrie in einer etwas komfortableren Situation wieder als die deutsche.

Trotzdem braucht es Ersatz. Das Mittel, mit dem der Westen Russland in die Defensive drängen will, heisst Flüssiggas. Am Freitag kündigte US-Präsident Joe Biden beim EU-Gipfel in Brüssel einen Pakt mit Europa an: Bis Ende Jahr werden die USA zusätzliche 15 Milliarden Kubikmeter an Flüssiggas über den Atlantik senden. Allerdings reicht das bei weitem nicht aus, um das russische Gas zu ersetzen. Im Jahr 2020 etwa verbrauchte die Europäische Union rund 155 Milliarden Kubikmeter aus Russland. Also rund das Zehnfache von dem, womit die USA nun einspringen wollen.

Bis jetzt macht Flüssiggas auch erst 18 Prozent der gesamthaft verbrauchten rund 400 Milliarden Kubikmeter Gas in Europa aus. Um den Anteil zu steigern, muss zuerst in die Infrastruktur investiert werden. Das heisst, es müssen Terminals für die grossen Gastankschiffe gebaut und das Netz modernisiert werden, um Flüssiggas quer durch Europa zu pumpen.

Putin will EU vorführen und zum Verstoss gegen eigene Sanktionen zwingen

Putin versucht die Abhängigkeit von seinen Gaslieferungen auch zu nutzen, indem er die EU zum Verstoss gegen ihre eigenen Sanktionen zwingen will: Künftig sollen russische Energieexporte nur noch mit Rubel bezahlt werden können. Der Westen müsste also massiv Euro gegen Rubel eintauschen, obwohl er die russische Zentralbank weitgehend vom Markt abgeschnitten hat. Es ist die erste harte Gegensanktion, die Putin erlassen hat. Sie soll die russische Zentralbank wieder liquider machen und ihr Devisen in die Kasse spülen. Halten sich die europäischen Abnehmer nicht daran, will Russland den Energiehahn zudrehen.

Sollte es dazu kommen, dass kein russisches Gas und Öl mehr nach Europa fliessen, müsste sich Putin noch mehr Richtung China und Indien ausrichten. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt sind heute beim Öl die grössten Abnehmer Russlands, vor der EU. Beim Gas hingegen ist Europa klar der grösste Käufer.

Deutschland will Ölimporte halbieren

Zwar hat Russland Pipeline-Projekte für Gas nach China, aber deren Umsetzung wird noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Der Transport von Gas mit Schiffen oder per Bahn mit Kesselwagen über Tausende Kilometer hinweg ist logistisch anspruchsvoll und nicht von heute auf morgen umsetzbar. Bis auf weiteres könnte Putin den Wegfall der Gas-Exporte nach Europa nicht ersetzen.

Die Abhängigkeit ist also noch gegenseitig – anders als beim Öl, das Europa schneller ersetzen könnte. Selbst Deutschland hat angekündigt, bis im Sommer die russischen Ölimporte halbieren zu wollen.

Ueli Maurer reist nach Katar

Die Schweiz geht das Problem der Energie-Versorgungssicherheit an, wie man es von ihr erwarten konnte: Mit einem Steuerungsausschuss, in dem unter anderem Elektrizitätsunternehmen, die Gasindustrie, Netzbetreiber und die kantonalen Energiedirektoren Einsitz nehmen. Er hat sich am Freitag unter der Leitung von Energieministerin Simonetta Sommaruga und Wirtschaftsminister Guy Parmelin erstmals getroffen. Dabei seien «organisatorische Fragen geklärt und die nächsten Schritte besprochen worden», heisst es in einer Mitteilung.

Ueli Maurer ist nach Katar gereist, um LNG-Lieferungen in die Wege zu leiten.
Ueli Maurer ist nach Katar gereist, um LNG-Lieferungen in die Wege zu leiten.Twitter @efd_dff

Anfang März hatte der Bundesrat schon beschlossen, dass die Gasindustrie gemeinsam LNG, Terminalkapazitäten und Gasspeicher beschaffen darf, ohne kartellrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Ueli Maurer ist nach Katar gereist, um LNG-Lieferungen in die Wege zu leiten und Simonetta Sommaruga versucht, die Schweiz in ein Gas-Solidaritätsabkommen von Deutschland und Italien einzubinden. Ob die Schweiz bereits im nächsten Winter auf russisches Gas verzichten kann? Diese Prognose wagt derzeit niemand. Das Ziel muss es sein.

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