Würde die Hamas einen Steckbrief ihrer meistgehassten Person entwerfen, käme wohl eine queere Feministin und Jüdin heraus. Vor allem eine Person müsste sich darauf erkennen: die 68-jährige amerikanische Star-Denkerin Judith Butler.
Es wirkt tragikomisch, aber sie entwirft ihrerseits ein weichgezeichnetes Bild der Hamas: Deren Massaker vom 7. Oktober bezeichnet Butler als Akt des «bewaffneten Widerstands». Sie bestreitet, dass es sich bei der brutalen Ermordung meist jüdischer Zivilisten um antisemitischen Terror handelte.
Seither steht Judith Butler unter Dauerbeschuss, wird gehässig als Hamas-Ideologin und «Philosophin des Terrors» diffamiert. Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, kennt Butler persönlich. Als international gefragter Experte für jüdische Geschichte, Philosophie und Literatur ordnet er fünf Widersprüche im Denken von Judith Butler ein.
Andreas Kilcher: Die Logik hinter der Redewendung vom «Akt des bewaffneten Widerstands» liegt in dem, was man als Kontextualisierung bezeichnen kann. Kontextualisierung aber ist keine objektive Grösse, sondern ein Konstrukt, das auf vielfältige Weise hergestellt werden kann, indem verschiedene Geschichten erzählt werden.
Die Kontext-Story von Butler sieht so aus: Es handelt sich bei dem Terrorangriff um eine Reaktion auf Repressionen der Palästinenser durch den Staat Israel, die seit der Staatsgründung 1948 und der damit verbundenen Vertreibung von Palästinensern andauert. Nach der Empörung über ihre Deutung des Hamas-Terrorangriffs auf Israel sah sich Butler zu einer Rechtfertigung genötigt.
Sie erklärte in diesem Sinn: «Die Jahrzehnte der Gewalt, die zu diesem Ereignis [7. Oktober] geführt haben, insbesondere die von den Besatzungsmächten verübten, liegen vor dem 7. Oktober, sodass die Geschichte, die wir erzählen sollten, mehrere Jahrzehnte vorher beginnen müsste.» Gemäss Butlers «Geschichte» ist also die Staatsgründung und die damit verbundene Gewalt gegen Palästinenser der Sündenfall.
Man muss sich vor Augen führen, was sie damit ausblendet: die Entstehung des Zionismus aus der Geschichte der Verfolgung der Juden im modernen Europa, von den zaristischen Pogromen nach 1880 bis hin zu der systematischen Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden durch den NS-Staat. All das blendet Butler aus, wenn sie ihre Version der «Geschichte» erzählt, die eine einseitig palästinensische Geschichte ist. Wie kontingent diese, ihre Version der Geschichte ist, vermag Butler leider nicht zu erkennen. Hier ist sie blind.
Es gibt Bausteine von Butlers Denken, die auf ihr schon lange bestehendes Engagement im Nahostkonflikt hinweisen. Dazu gehört weniger ihre poststrukturalistische Theorie der Gender als diskursive Produkte oder ihr Konzept der Queer Identities als Subversion von Geschlechtsidentität. Bemerkenswert ist aber ihre «Ethik der Gewaltlosigkeit», wonach die Dynamik einer Verletzung durch Hinwendung zum Anderen gerade durchbrochen werden soll. Wie sie aber ihre erklärte «Philosophie der Gewaltlosigkeit» mit der Rechtfertigung eines gewaltsamen «Widerstandes» vereinbaren kann, ist eine offene Frage an sie.
Ihre Haltung zum Nahostkonflikt sehe ich allerdings in einem anderen Kontext: Wie andere amerikanisch-jüdische Linksintellektuelle (zum Beispiel Noam Chomsky, Michael Rothberg, Daniel Boyarin, Masha Gessen) und wie die Organisation «Jewish Voice for Peace», in deren Beirat Butler sitzt, kritisiert sie den Staat Israel fundamental (bis nahe an das Existenzrecht). Das aber wird vor dem Hintergrund der politischen Vorstellung oder gar Norm eines kosmopolitischen Diasporajudentums verständlich. Die zionistische Idee des Nationalstaates wird als dem Judentum fremd abgelehnt, während die Diaspora als transnationale und transkulturelle Lebensform zur genuin jüdischen erklärt wird.
Das ist kaum lustvolle Provokation der in der Tat sonst sehr klugen Philosophin, die ich schätze, sondern lange gewachsene Überzeugung, die sie seit vielen Jahren immer wieder äussert, im vollen Bewusstsein darüber, dass sie damit bei einigen auf Zustimmung, bei vielen anderen auf Kritik stösst. Damit ist jedoch weder gesagt, wie kohärent, noch wie klug ihre Argumentation in dieser Hinsicht ist.
Dass sie nicht immer kohärent ist, zeigt ihre Philosophie der Gewaltlosigkeit: Wie kann ein Gewaltausbruch gegen Zivilisten, Frauen, Jugendliche, Kinder mit Mord, Vergewaltigung und Entführung bloss als «Akt des bewaffneten Widerstands» bezeichnet werden? Und wie kann dann die israelische Reaktion einseitig als illegitim kritisiert werden, als gäbe es zwar das Recht auf die Gewalt des «bewaffneten Widerstands», nicht aber das Recht auf Verteidigung dagegen?
Der Schriftsteller Doron Rabinovici hat diesbezüglich an Shakespeares Shylock erinnert: Wehren darf sich Israel schon, aber nur wenn kein Tropfen Blut fliesst. Ich würde daher sagen, dass Butler bei ihrem Versuch der Stilisierung der Hamas als «Widerstandskämpfer» nicht bewusst provokativ, sondern vielmehr naiv und blind ist. Ihre Deutung lässt sie sich nicht einmal durch den Umstand nehmen, dass diese «Widerstandskämpfer» Frauen vergewaltigten (ein Umstand, den Butler gegen alle Beweise sogar anzweifelt).
Die Antwort auf die Frage liegt in dem grundlegenden Unterschied zwischen Israel und Judentum, den im Übrigen nicht erst Butler sowie andere jüdische Linksintellektuelle etwa in den USA machen, sondern den jüdische Intellektuelle in Europa analog in Bezug auf den Zionismus schon um 1900 gemacht hatten. Gerade auf Benjamin, Adorno, Arendt und Kafka kann sich problemlos berufen, wer die genuine politische Form des Judentums in der Diaspora erkennt, und zugleich den Staat Israel und damit den Zionismus überhaupt als falsche Variante der jüdischen Moderne kritisiert. Butlers Israelkritik ist insofern nicht nur eine linke, sondern auch eine jüdische Position, die eben von der Behauptung lebt, dass die Idee des Nationalstaates letztlich dem Judentum fremd ist. Angemessen sei ihm vielmehr ein transnationales, multikulturelles Gemeinschaftsleben.
Der Antisemitismus und die Linke, das ist ein schwieriges Thema. Zunächst geht es mir keineswegs darum zu behaupten (wie das einige Stimmen seit dem 7. Oktober getan haben), dass der Antisemitismus ein Problem der Linken sei, und nicht etwa der Rechten, wo er ganz klar entstanden ist und bis heute tief verankert ist. Es ist jedoch so, dass die Linke sich zwar stets den Kampf gegen Kapitalismus, Unterdrückung, Faschismus und Rassismus auf die Fahne geschrieben hat, aber dennoch nicht frei von Antisemitismus ist. So war die sozialistische Kapitalismuskritik seit dem 19. Jahrhundert teils mit antisemitischen Argumenten verbunden: Die Juden waren die «Schacherer» und Händler (so etwa bei Marx), Unternehmer, Bankiers und überhaupt die Erfinder der Wurzel allen Übels, nämlich des Kapitalismus (so etwa bei Werner Sombart).
Die Kritik von links am Staat Israel (der in den Anfängen bemerkenswerterweise stark vom Sozialismus geprägt war) hat ein anderes Motiv: nämlich «Imperialismus» und «Apartheid», also die Unterdrückung eines Volkes (der Palästinenser), das es zu befreien gelte. Diese Kritik am Staat Israel entstand vor allem nach dem Sechstagekrieg 1967 und dem Yom Kippur Krieg 1973, als Israel palästinensische Gebiete besetzte, die es bisher nur zum Teil zurückgegeben hat. Das haben nicht nur nicht-israelische jüdische Linksintellektuelle als eine politische Wasserscheide erachtet, sondern auch viele israelische wie etwa Jeschajahu Leibowitz.
Butler aber setzt weniger beim Widerstand gegen die Besetzung der Palästinensergebiete wie Westbank oder Golan an, sondern bei der Staatsgründung. Das ist eine fundamentale Israelkritik, die entsprechend antizionistisch ist. Antisemitisch ist Butler aber deshalb nicht. Ihr Antisemitismus vorwerfen kann nur, wer Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt. Dazu besteht in Deutschland - aus historischen Gründen - eine viel grössere Bereitschaft als etwa in den USA. Kritik an Israel und am Zionismus ist aber keineswegs automatisch antisemitisch.
Dennoch gibt es Grenzen, die auf linker Seite insbesondere die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), der Butler nahesteht, überschreitet. Denn hier wird zum pauschalen Boykott von Menschen aufgerufen, nur weil sie in Israel leben und arbeiten. Boykottiert werden nach dem Willen der BDS etwa auch alle israelischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die doch gerade das Rückgrat wichtiger innerisraelischer Kritik bilden. (bzbasel.ch)
Wer sich bei diesem Konflikt nicht in Widersprüche verstrickt, nimmt den Konflikt nicht ernst.
Aber ihr vorzuwerfen die Verfolgungung der Juden durch NS und Zaristisches Russland auszublenden, ist im Zusammenhang mit der darauf folgenden Vertreibung der Palästinenser auch ein bisschen komisch. Das tönt so als wäre es OK, dass die Palästinenser jetzt den Mist der Deutschen und Russen ausbaden müssten. Die Bundisten haben es richtig gesagt,lieber sich daheim befreien anstatt wegzulaufen zur Utopie,die sich jetzt auch als Gewaltstaat herausstellt