76 Jahre lang – von 1930, als der Pluto entdeckt wurde, bis 2006, als er zu einem Zwergplaneten zurückgestuft wurde – hatte unser Sonnensystem neun Planeten. Derzeit sind es acht, die sich mit der Erinnerungsstütze «Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel» leicht merken lassen. Jeder Anfangsbuchstabe steht in diesem Merksatz für einen Planeten, und zwar von der Sonne aus gesehen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun.
Die Internationale Astronomische Union (IAU) degradierte den Pluto aus mehreren Gründen zum Zwergplaneten. Zum einen besitzt er nur gerade ein Drittel des Volumens des Erdmondes. Zum andern definierte die IAU den Begriff «Planet» neu, wonach ein solcher Himmelskörper seinen Orbit von anderen Objekten freiräumen muss – was beim Pluto nicht der Fall ist. Überdies gibt es im Kuipergürtel – jenseits der Umlaufbahn des Neptuns – und darüber hinaus Tausende von kleinen Himmelskörpern, darunter auch Zwergplaneten, die fast so gross sind wie der Pluto.
Diese Himmelskörper, sogenannte Transneptunische Objekte, sind meist nicht sehr gross, dunkel und schwer zu erkennen. Und sie sind der Hauptgrund dafür, dass manche Astronomen die Existenz eines noch nicht entdeckten Planeten postulieren – des mysteriösen Planeten Neun, der als «massiver Unruhestifter» dafür verantwortlich sein soll, dass die Bahnen von manchen dieser Objekte derart seltsam sind. Sie sind nämlich stark exzentrisch und zeigen obendrein alle in eine Richtung. Hinzu kommt, dass ein solcher Planet Neun – vorausgesetzt, er besitzt genügend Masse – auch die Schieflage der acht bekannten Planeten erklären könnte. Deren Bahnen liegen alle ungefähr auf einer Ebene, die im Verhältnis zum Sonnenäquator um rund sieben Grad geneigt ist.
Besonders die Berechnungen von Konstantin Batygin und Michael E. Brown vom California Institute of Technology (Caltech) sorgten für Aufsehen. Die beiden Astronomen kamen 2016 erstmals zum Schluss, Planet Neun sei ein Gasplanet mit der rund zehnfachen Masse der Erde, der sich in einer elliptischen Bahn weit draussen im Kuipergürtel um die Sonne bewege. Für eine Umrundung der Sonne benötige dieser Gasriese zwischen 10'000 und 20'000 Jahren. Batygin und Brown gingen davon aus, dass dieser Planet nicht so weit draussen entstand, sondern vor langer Zeit durch die Schwerkraft der beiden Schwergewichte Jupiter und Saturn in den Kuipergürtel hinauskatapultiert worden sei.
Brown nahm damals an, Planet Neun werde innerhalb der nächsten fünf Jahre entdeckt – was nicht der Fall war, wie wir heute wissen. Wenn auch spätere Forschungsergebnisse, etwa im vergangenen April von einem Team um Terry Long Phan von der National Tsing Hua University, die Existenz von Planet Neun ebenfalls plausibel erscheinen liessen, wurde der Nachweis bisher nicht erbracht.
Nun bringt jedoch ein Objekt am Rande des Sonnensystems die Hypothese eines Planeten Neun kräftig ins Wanken. Das bereits 2023 im Rahmen des Durchmusterungsprojekts Fossil (Formation of the Outer Solar System: An Icy Legacy) entdeckte transneptunische Objekt trägt die wissenschaftliche Bezeichnung 2023 KQ14. Die Astronomen haben ihm den Spitznamen Ammonite verpasst (Ammoniten sind wichtige Leitfossilien), da Computersimulationen darauf hindeuten, dass seine Umlaufbahn seit 4,2 Milliarden Jahren stabil geblieben ist. Dies macht 2023 KQ14 zu einem «Fossil» aus der fernen Vergangenheit des Sonnensystems.
2023 KQ14 wurde durch Beobachtungen mit dem japanischen Subaru-Teleskop auf dem hawaiianischen Vulkan Mauna Kea entdeckt, worauf im Juli 2024 Folgebeobachtungen mit dem Canada-France-Hawaii-Teleskop durchgeführt wurden. Zudem suchten die Forscher in Archiven nach undokumentierten Sichtungen des Objekts, sodass seine Umlaufbahn über die letzten 19 Jahre verfolgt werden konnte. Das internationale Forschungsteam hat die Ergebnisse jetzt in der Zeitschrift «Nature Astronomy» präsentiert.
2023 KQ14 ist schätzungsweise zwischen 220 und 380 Kilometer gross und entstand wahrscheinlich vor etwa 4,6 Milliarden Jahren im jungen Sonnensystem. Für eine komplette Sonnenumrundung benötigt es 3998 Jahre auf einer Umlaufbahn von 66 bis 438 Astronomischen Einheiten (AE) – eine AE entspricht dem durchschnittlichen Erd-Sonnen-Abstand von ungefähr 150 Millionen Kilometern. Zum Zeitpunkt der Beobachtung befand sich 2023 KQ14 in einer Entfernung von 71 AE zur Sonne. Damit ist es mehr als doppelt so weit von der Erde entfernt wie der äusserste Planet Neptun.
Wie aber erschüttert die neue Entdeckung die Hypothese eines Planeten Neun? Die Astronomen ordnen 2023 KQ14 einer seltenen Unterklasse der Transneptunischen Objekte zu, den sogenannten Sednoiden. Diese ähneln dem Zwergplaneten Sedna und zeichnen sich durch eine extrem elliptische Umlaufbahn aus, die dem gravitativen Einfluss von Neptun kaum mehr unterliegt. 2023 KQ14 ist erst das vierte Objekt inklusive Sedna, das zu dieser Unterklasse gehört und dessen sonnennächster Punkt (Perihel) mehr als 60 AE und dessen Hauptachse mehr als 200 AE aufweist. Doch sein Umlaufverhalten unterscheidet sich deutlich von dem der anderen Sednoiden dieser Gruppe.
Das Forschungsteam nimmt an, dass sich alle vier bisher bekannten Sednoiden – neben 2023 KQ14 also (90377) Sedna, (541132) Leleākūhonua und 2012 VP113 – vor etwa 4,2 Milliarden Jahren auf ähnlichen Umlaufbahnen befanden. Da die heutige Bahn von 2023 KQ14 – die seit 4,5 Milliarden Jahren stabil ist – sich von jener der anderen Sednoiden unterscheidet, müsse rund 400 Millionen Jahre nach der Entstehung des «Fossils» etwas Dramatisches geschehen sein, das die Umlaufbahnen drastisch veränderte. «Die Tatsache, dass die aktuelle Umlaufbahn von 2023 KQ14 nicht mit denen der anderen drei Sednoiden übereinstimmt, verringert die Wahrscheinlichkeit der Planet-Neun-Hypothese», stellt Yukun Huang, der Simulationen der Umlaufbahn durchführte, in einer Mitteilung des National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) fest.
Huang räumt ein, es sei zwar möglich, dass im Sonnensystem tatsächlich einst ein Planet Neun existiert habe. Später wäre er aber herausgeschleudert worden und hätte dabei die ungewöhnlichen Bahnen der Sednoiden verursacht. Ein solcher Planet Neun wäre jedoch viel weiter von der Sonne entfernt als bisher angenommen.
Die merkwürdigen Bahnen der Sednoiden könnten allerdings auch einen ganz anderen Grund haben. Zwei im vergangenen Jahr publizierte Studien eines deutsch-niederländischen Forschungsteams schlagen als Erklärung für die teils exzentrischen Bahnen vor, dass ein fremder Stern mit etwa 0,8 Sonnenmassen vor Milliarden Jahren sehr nahe am Sonnensystem vorbeiflog. Seine Schwerkraft hätte dann Tausende kleinere Himmelskörper im äusseren Sonnensystem auf stark geneigte Bahnen um die Sonne gebracht. Solche Passagen von Sternen kommen besonders in jungen Sonnensystemen in Sternwiegen häufiger vor.
Die Hypothese der Passage eines fremden Sterns könnte zugleich noch ein anderes Phänomen erklären. Die Simulationen zeigten, dass ein kleiner Teil der Transneptunischen Objekte dadurch ins Sonnensystem hineingeschleudert wurde, und zwar in die Region der Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Einige dieser Objekte könnten von diesen Gasriesen eingefangen worden sein, wonach sie diese Planeten als Monde umkreisten. Dies könnte erklären, warum die äusseren Planeten des Sonnensystems zwei verschiedene Arten von Monden besitzen – nämlich prograde Monde, die der Rotationsrichtung ihres Planeten folgen, und retrograde Monde, die ihn entgegen der Rotationsrichtung umkreisen.