Während die Fallzahlen der Covid-19-Erkrankungen weltweit steil ansteigen, herrscht nach wie vor beträchtliche Unsicherheit, wie hoch die Zahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten wirklich ist. Die Fallzahlen, so akribisch sie jeweils aufgelistet werden, sind im Grunde nur Schätzungen – sie beruhen nämlich auf Tests und umfassen lediglich die bestätigten Fälle. Getestet wird freilich in verschiedenen Ländern in höchst unterschiedlichem Mass. Die sogenannte Dunkelziffer – also das Missverhältnis von statistisch erfassten Krankheitsfällen und der tatsächlichen Krankheitshäufigkeit (Prävalenz), die es bei jeder Infektionskrankheit gibt – lässt sich daher nicht leicht bestimmen.
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Sehr viele Infektionen verlaufen so mild oder gar völlig ohne Symptome, dass manche Infizierte gar nicht erst merken, dass sie sich das Virus eingefangen haben. Diese Fälle nennt man asymptomatisch. Wer nicht merkt, dass er infiziert ist, lässt sich in aller Regel auch nicht testen – und läuft eher Gefahr, das Virus weiterzuverbreiten. Licht ins Dunkel können repräsentative Stichprobentests bringen. Solche Tests führte Österreich diese Woche bei 2000 repräsentativ ausgewählten Bürgern durch, die vorab durch einen Brief und einen Anruf informiert werden. Die Tests – es handelt sich um die derzeit üblichen PCR-Tests, die nach dem Erbgut des Virus suchen – liefen noch bis Freitag, nun erfolgt die Auswertung.
Am 5. April startet eine weitere Stichprobenserie – diesmal in München. Vier Wochen lang sollen die Blutproben von etwa 4500 Personen aus 3000 zufällig ausgewählten Haushalten auf Antikörper getestet werden. Diese lassen sich im Blut nachweisen, auch wenn die infizierte Person keinerlei Symptome verspürt hat. Sie bleiben zudem im Körper, wenn die Krankheit bereits abgeklungen ist.
Das Münchner Projekt wird von der Abteilung Infektions- und Tropenmedizin am Klinikum der Universität München (LMU) durchgeführt. Deren Leiter Michael Hoelscher schätzt, die Dunkelziffer könnte zwischen einem und zehn Prozent der Bevölkerung liegen, wie er dem Bayrischen Rundfunk sagte.
Auch ein neuer, von Schweizer Forschern entwickelter Antikörpertest könnte zur Aufklärung der Dunkelziffer beitragen. Alle Patienten, die ins Universitätsspital Zürich aufgenommen werden, sollen mit diesem Bluttest auf Antikörper getestet werden. Damit soll festgestellt werden, wie viele Personen das Virus in sich tragen oder die Krankheit bereits durchgemacht haben.
Wenn keine Stichprobentests vorliegen, kann eine Schätzung der Dunkelziffer mit Hilfe von Simulationen erfolgen. So haben Wissenschaftler der Columbia University die Ausbreitung der Corona-Pandemie per Computerprogramm simuliert, wobei sie sich auf Daten stützten, die aus der Anfangsphase der Epidemie in China stammen – und zwar bevor die Behörden dort Kontaktverbote verhängten. Zu diesen Daten zählten gemeldete Infektionen in 375 chinesischen Städten, die Ausbreitung der Epidemie in China sowie Daten zur Mobilität vom 10. bis 23. Januar (dem Tag des Lockdowns in Wuhan).
In ihrer vielzitierten Studie, die sie im Fachmagazin «Science» veröffentlichten, berechneten die Wissenschaftler um Ruiyun Li, dass vor dem Lockdown 86 Prozent aller Infektionen nicht registriert wurden. Gemäss ihren Modellen waren diese unentdeckten Infektionsfälle im Mittel nur halb so ansteckend (52%) wie bestätigte Infektionen; dennoch waren sie die Quelle von zwei Dritteln der bestätigten Fälle.
«Die Explosion der Covid-19-Fälle in China wurde vorwiegend von Personen mit milden, begrenzten oder keinen Symptomen verursacht, die nicht entdeckt wurden», sagte Jeffrey Shaman, Co-Autor der Studie. Unentdeckte Fälle könnten «je nach Ansteckungsgefahr und Anzahl» einen weitaus grösseren Teil der Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt bringen, als dies sonst der Fall wäre.
Shaman wies zudem darauf hin, dass zu Beginn einer Epidemie in einigen Gesellschaften möglicherweise zehn unentdeckte Fälle auf einen nachgewiesenen kommen, in anderen dagegen fünf. «Wir können uns über die genaue Zahl streiten», erklärte er, doch es laufe – auch nach den Befunden anderer Studien – auf diese Grössenordnung hinaus.
Ein interessanter Ansatz besteht darin, anhand von zwei Kennzahlen die Dunkelziffer grob einzuschätzen. Es geht um die Case Fatality Rate (CFR) und die Infection Fatality Rate (IFR), die beide – aber auf unterschiedliche Weise – die Sterblichkeit einer Infektionskrankheit wie Covid-19 beschreiben. Hier müssen wir allerdings etwas ausholen:
Oft wird die CFR mit der IFR verwechselt und als Kennzahl für die Sterblichkeit aller Infizierten und damit für die Tödlichkeit des Virus verwendet. Die CFR ist jedoch weder in Zeit noch Raum konstant – sie ist keine biologische Konstante des Virus, sondern unterscheidet sich von Land zu Land, von Population zu Population. Sie kann sich während der Zeit selbst innerhalb eines Landes verändern.
Das liegt daran, dass sie mit einer Reihe von Verzerrungen behaftet ist; werden diese nicht bereinigt und einfach die Zahl der Todesfälle und der bestätigten Fälle zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander verrechnet, spricht man von der «naive CFR» (nCFR).
Zu den wichtigsten Faktoren, die die CFR verzerren, gehört die Zeitspanne zwischen der Erkrankung und dem Tod eines an Covid-19 Erkrankten (durchschnittlich rund 13 Tage). Von den zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeldeten Fällen ist nicht bekannt, wie sie ausgehen – von diesen Erkrankten werden einige in der nächsten Zeit sterben. Dies führt dazu, dass die CFR das reale Sterberisiko während eines Ausbruchs unterschätzt.
Hinzu kommt eine mögliche Verzerrung, wenn nur wenige Tests zur Verfügung stehen und daher lediglich schwere Fälle getestet werden, bei denen ein tödlicher Verlauf wahrscheinlicher ist. Dies könnte mit ein Grund sein, warum die CFR in Italien und Spanien so viel höher ist als in anderen europäischen Ländern wie etwa Deutschland.
Auch spielt eine Rolle, wie alt die Bevölkerung im Mittel ist – da es bei älteren Patienten eher zu einem schweren Verlauf kommt, liegt die CFR bei älteren Bevölkerungen tendenziell höher. Überdies kommt es auch darauf an, wie gut das Gesundheitssystem in einem Land, das von der Pandemie betroffen ist, vorbereitet und ausgestattet ist.
Wie sieht es nun mit der IFR von SARS-CoV2 aus? Dazu gibt es mittlerweile mehrere Forschungsarbeiten, die zu ähnlichen Resultaten kommen. Eine Studie von Wissenschaftlern um Robert Verity geht für China von einem nCFR von 3,67 Prozent aus; dieser Wert sinkt nach Bereinigung von demographischen Faktoren und der Untererfassung leichterer Fälle in Wuhan im Vergleich zu Rest-China auf 1,38 Prozent. Davon ausgehend kommen die Wissenschaftler auf eine IFR von 0,66 Prozent. Die bekannte Studie von Neil Ferguson schätzt die IFR für Grossbritannien aufgrund der anderen Altersstruktur der britischen Bevölkerung auf 0,9 Prozent.
Um nun die Dunkelziffer – also den Anteil der Infizierten, die nicht von Tests erfasst werden – abzuschätzen, wird die CFR durch die IFR geteilt und das Resultat danach mit der Zahl der bestätigten Fälle multipliziert. Davon wird noch die geschätzte Anzahl der genesenen Patienten abgezogen.
Eine kürzlich publizierte Studie von Wissenschaftlern um Timothy W. Russell hat mit einem ähnlichen Verfahren den Anteil der bestätigten Fälle an den gesamten Infektionsfällen in verschiedenen Ländern berechnet. Russell übernahm dazu die bereinigte CFR von 1,38 Prozent aus Veritys Arbeit zu China und verglich sie mit der entsprechenden Kennzahl anderer Länder. Wenn sie in einem Land höher liegt (zum Beispiel 20%), deutet dies gemäss der Studie darauf hin, dass nur ein Bruchteil der Fälle registriert wurde (im Beispiel also 1,38:20=0,069, also ungefähr 6,9%).
Für die Schweiz kommt Russell so auf einen Anteil der bestätigten Fälle von 24 Prozent – das heisst, die Dunkelziffer der nicht registrierten Infektionen liegt bei 76 Prozent. Die Zahl der bestätigten Fälle belief sich in der Schweiz am 3. April auf 19'706. Davon ausgehend würde sich die Anzahl der nicht registrierten Infektionsfälle am selben Tag um etwa 62'000 bewegen.
Dabei sollte jedoch keinesfalls vergessen werden, dass belastbare Zahlen erst nach dem Ende der Pandemie verfügbar sein werden. Sicher ist nur, das die Zahl der Infizierten wohl in den meisten Ländern um ein Mehrfaches über jener der bestätigten Fälle liegt.
El Vals del Obrero
Das würde ja heissen, dass die Krankheit gesamthaft weniger tödlich wäre. Gleichzeitig wäre die "Durchseuchung" weiter fortgeschritten.
Natürlich geht es momentan gar nicht so sehr um die Dunkelziffer. Kurzfristig entscheidend ist es, dass man die absolute Anzahl gleichzeitig Schwerbetroffener in einem sinnvollen Rahmen halten kann, egal wie hoch deren relativer Anteil ist. Deshalb braucht es leider die Massnahmen. Für die mittel- bis langfristige Entwicklung macht es aber sicher einen Unterschied.
Kopold
Nähm mich schon noch wunder, ob meine Krankheit jetzt covid war.
bokl
42!