Knapp ein Jahr nachdem das neuartige Coronavirus seinen Siegeszug rund um den Globus angetreten hat, ist in Grossbritannien der Startschuss zur Massenimpfung gefallen. Für manche ist dies Anlass zu grossen Hoffnungen; sie erwarten das Ende der Pandemie oder zumindest eine Rückkehr normaler Lebensbedingungen. Andere sehen in der Impfung lediglich eine Goldgrube für die Pharmaindustrie, ein gefährliches Übel oder im Extremfall selbst ein Vehikel zur Kontrolle und absichtlichen Dezimierung der Bevölkerung.
Nun gibt es im Zusammenhang mit den neuen Impfstoffen, die in nie dagewesener Geschwindigkeit entwickelt wurden, durchaus berechtigte Bedenken. Und auch bei bewährten Impfstoffen, die bereits seit geraumer Zeit verabreicht werden, kann es in sehr seltenen Fällen zu Komplikationen kommen. Diese negativen Folgen stehen allerdings in keinem Verhältnis zum Nutzen der Impfung.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Gleichwohl scheint die sogenannte Impfmüdigkeit um sich zu greifen und das Lager der entschiedenen Impfgegner wächst zusehends. Diese Entwicklung dürfte mehrere unterschiedliche Gründe haben; sie erscheint aber zumindest verwunderlich, wenn man sich einmal vor Augen führt, wie eine Welt ohne Impfungen aussähe. Ähnliches gilt auch für andere medizinische Errungenschaften wie Antibiotika oder Neuroleptika.
«Von der Liebe und den Pocken wird keiner verschont.» Diese Weisheit vergangener Jahre erinnert uns daran, wie weit verbreitet einst diese gefährliche Infektionskrankheit war. Pockenviren sorgten über Jahrhunderte hinweg immer wieder für Seuchenzüge, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Allein im 20. Jahrhundert dürften etwa 300 Millionen Menschen an den Pocken gestorben sein. Der Erreger war so tödlich, dass ein bis zwei Drittel aller Infizierten die Infektion nicht überlebten. Doch dann machte eine weltweite Impfkampagne der Seuche den Garaus – 1980 erklärte die WHO die Pocken für ausgerottet.
Die Pocken sind bei weitem nicht die einzige Geissel der Menschheit, die durch eine Impfung besiegt wurde oder in Schach gehalten wird. So ist die Diphtherie, die noch vor gut 100 Jahren als Würgeengel der Kinder bezeichnet wurde, in den Industrienationen heute weitgehend unter Kontrolle. In Europa grassierte die letzte grosse Epidemie im Zweiten Weltkrieg. Ohne Impfung verlaufen rund 10 Prozent der Fälle trotz Behandlung tödlich. Auch wenn die Kindersterblichkeit insgesamt auch wegen besserer Hygiene und besseren Behandlungsmethoden sank, rettete die Impfung zahlreichen Kindern das Leben. Was geschieht, wenn die Durchimpfungsrate unter einen kritischen Wert sinkt, war in Russland zu beobachten: Dort fielen Impfprogramme nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus, worauf es zu fast 50'000 Diphtherie-Fällen kam.
Auch das Poliovirus, das die gefürchtete Kinderlähmung verursacht, hat seit den 50er-Jahren seinen Schrecken weitgehend verloren. Zwar erkrankt nur 1 Prozent der Infizierten schwer, aber die Folgen sind massiv: Es treten bleibende Lähmungen auf und wenn das Atemzentrum im Hirn angegriffen wird, kann die Krankheit tödlich verlaufen. Vor der Einführung von anderen Beatmungsgeräten überlebten viele Patienten nur mit Hilfe einer sogenannten Eisernen Lunge. Es gibt keine Medikamente zur Behandlung. Die Impfung hat die Krankheit in den Industrieländern besiegt: In der Schweiz ist seit 1982 kein einziger Fall mehr aufgetreten, 2002 erklärte die WHO Europa als poliofrei.
Diese drei Beispiele sind nur ein kleiner Teil der Erfolgsgeschichte der Impfung. Seit der englische Arzt Edward Jenner 1796 ein Kind gegen Pocken impfte, hat die Entwicklung von Impfstoffen unermessliches Leid verhindert. Und sie könnten noch mehr Leid verhindern: Auch die Masern, an denen weltweit jedes Jahr rund 150'000 Menschen sterben, könnten längst ausgerottet sein, wenn genügend Menschen gegen sie geimpft würden. Dass dies nicht geschieht, liegt paradoxerweise am Erfolg der Impfungen: Viele Leute betrachten sie heute als harmlose Kinderkrankheit und sehen nur noch die – weitaus geringeren – Risiken einer Impfung. Die Folge: In den letzten Jahren hat die Zahl der Masernfälle weltweit, die von 1980 bis 2013 um 95 Prozent gesunken war, wieder um 30 Prozent zugenommen.
Gerade in der westlichen Welt, in der der Erfolg der Impfungen am meisten greifbar ist, nimmt deshalb die Impfmüdigkeit zu. Manche Leute verteufeln diese ausserordentlich erfolgreiche medizinische Errungenschaft geradezu – und vergessen die Schrecken, die durch erfolgreiche Impfkampagnen aus der Welt geschafft wurden. Ihre individuelle Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, hat aber Auswirkungen auf das Kollektiv: Sie lässt die Durchimpfungsrate sinken, was wiederum die sogenannte Herdenimmunität bedroht und Risikogruppen wie Säuglinge, Alte oder immungeschwächte Personen gefährdet.
Einer der wichtigsten Durchbrüche in der Medizingeschichte geschah durch Zufall: 1928 vergass der britische Mediziner Alexander Fleming eine Petrischale mit einer Bakterienkultur. Als er sie wieder fand, war sie verschimmelt – doch Fleming erkannte, dass der Pilz die Staphylokokken an der Vermehrung gehindert hatte. Obwohl andere vor Fleming auch schon erkannt hatten, dass Schimmelpilze antibiotische Eigenschaften haben, war es seine Entdeckung, die einige Jahre später den Siegeszug der Antibiotika ermöglichte. Wie viele Menschenleben diese neue Waffe gegen bakterielle Infektionskrankheiten gerettet hat, lässt sich – ähnlich wie bei den Impfungen – kaum beziffern. Es sind auf jeden Fall viele Millionen.
Antibiotika revolutionierten die Bekämpfung von gefährlichen Infektionen, gegen die die Ärzte zuvor nahezu machtlos waren: bakterielle Lungenentzündung, Scharlach, Syphilis, Wundstarrkrampf, um nur einige zu nennen. Heute ist uns kaum noch bewusst, dass eine simple Wundinfektion früher den vorzeitigen Tod bedeuten konnte.
Inzwischen sind beinahe 8000 antibiotisch wirkende Substanzen bekannt, von denen rund 80 in der Medizin eingesetzt werden. Die Zahl der darauf basierenden Medikamente nimmt laufend zu. Allerdings nimmt auch die Zahl der antibiotikaresistenten Bakterien zu – und dies ist eine bedrohliche Entwicklung. Sie lässt die neben den Impfstoffen wichtigste Waffe gegen Infektionen stumpf werden.
Schuld an der Resistenzentwicklung ist neben der Unterdosierung oder einer zu kurzen Behandlungsdauer die Verwendung von Antibiotika zur Krankheitsvorbeugung und Leistungssteigerung in der Tiermast. Auch die Verabreichung von Antibiotika als Mittel gegen Virusinfektionen, beispielsweise bei Erkältungen, trägt dazu bei. Gegen Viren sind Antibiotika in aller Regel wirkungslos; ihre Verabreichung kann aber die Resistenzbildung bei Bakterien begünstigen.
Die Resistenzbildung hat das Image der Antibiotika beschädigt – aber wohl nicht so stark wie deren Freisetzung in der Umwelt. Dies geschieht in grossen Mengen vornehmlich durch Gülle und Mist aus der Intensivtierhaltung. Auch dies führt zur Bildung von multiresistenten Keimen, was wiederum auf den Menschen zurückschlagen kann.
Trotz diesen Nachteilen wäre es ein Fehler, die Antibiotika geringzuschätzen. Eine moderne, effiziente Medizin ohne Antibiotika ist kaum denkbar – und sollte diese Waffe in Zukunft tatsächlich wegen der Überhandnahme von Resistenzen abstumpfen, werden dies auch die Befürworter von alternativen Heilmethoden schmerzlich zu spüren bekommen.
Neuroleptika sind Psychopharmaka, die eine dämpfende und antipsychotische Wirkung haben. Sie haben die Behandlung von psychotischen Störungen wie Halluzinationen, Realitätsverlust oder Ich-Störungen revolutioniert. Bevor diese Arzneimittel, die ab den 50er-Jahren entwickelt wurden, Einzug in die Therapie hielten, gab es keine adäquate Behandlungsmethode für Patienten, die an einer solchen Störung erkrankt waren. Oft wurden sie einfach in psychiatrische Kliniken eingewiesen und dort festgehalten, bis die Symptome abgeklungen waren. Behandlungsmethoden, deren Nutzlosigkeit nur noch von ihrer Grausamkeit übertroffen wurde, waren alltäglich: anketten, mit kaltem Wasser übergiessen, Elektroschocks. Auch die Lobotomie mit ihren schwerwiegenden Folgen wurde angewendet.
Die neuen Medikamente, die den Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin beeinflussen, räumten mit diesen Methoden auf. Die Symptome konnten nun gezielter bekämpft werden, die Dauer des krankhaften Zustands liess sich damit verkürzen. Sie können den Patienten zudem ermöglichen, sich ihrer Krankheit bewusst zu werden und sich von ihr zu distanzieren.
Allerdings verursachten die klassischen Neuroleptika eine Reihe von teils schweren Nebenwirkungen wie der Störung der Bewegungsabläufe, Apathie und teilweise massive Gewichtszunahme. Sie verändern bei Langzeitverabreichung zudem die Gehirnstruktur. Neuroleptika der neueren, sogenannt atypischen Generation, die es seit den 90er-Jahren gibt, weisen weniger Nebenwirkungen auf. Manche Patienten empfinden die dämpfende, abschirmende Wirkung allerdings nicht als angenehm – in einigen Fällen setzen sie die Einnahme ab, auch wenn damit das Risiko eines erneuten psychotischen Schubs steigt.
Neuroleptika haben in weiten Kreisen ein schlechtes Image, das nicht nur auf den Nebenwirkungen beruht, sondern ein allgemeines Unbehagen gegenüber der Psychiatrie widerspiegelt – wie es etwa in einem Film wie «Einer flog übers Kuckucksnest» zum Ausdruck kommt. Bei einigen Psychiatriekritikern gelten Neuroleptika daher oft als Teufelszeug, das dazu dienen soll, psychisch kranke Patienten zu sedieren und an eine repressive Normalität anzupassen. Auch hier sollte allerdings ehrlicherweise der Vergleich mit den Zuständen vor der Einführung dieser Mittel in Betracht gezogen werden. Die Behandlung schwerer psychotischer Störungen ohne Chemie ist illusorisch.
Nur passt das halt nicht ins Narrativ der Kulturpessimisten.
Anästhetika fehlen in meinen Augen, weil ohne sie gäbe es keine moderne Chirurgie.