Stell dir vor, wir schreiben das Jahr 1827. Du bist 35 und gerade in deiner zweiten Ehe. Die erste Frau und deine Kinder hast du in Irland sitzen lassen, nur weil dir die Schwiegereltern auf die Nerven gingen. Du hast dich die letzten Jahre mit verschiedenen Berufen durchgeschlagen. Vom Hafenarbeiter bis zum Strassenhändler hast du alles ausprobiert.
Als Schuster verdienst du nun einen – zumindest für deine Verhältnisse – akzeptablen Lohn und die Menschen mögen dich in deiner neuen Heimat: Edinburgh, Schottland. Gottesfürchtig wie du bist, lebst du nun bescheiden mit deiner zweiten Frau in einem billigen Mehrfamilienhaus zur Miete. Ein durchschnittliches Leben, nichts Ungewöhnliches.
Angenommen, du hättest die Möglichkeit gehabt, in einer Nacht ohne grossen Aufwand den Lohn von zwei bis drei Monaten einzufahren, du hättest dies sicherlich getan – oder nicht? Zwar gäbe es dabei ein paar Haken. Etwa eine arme alleinstehende Frau weniger hier, ein obdachloser Krüppel weniger auf den Strassen da … aber wen würde das in Anbetracht des Lohnes kümmern, wenn du dabei sogar noch der Wissenschaft dienlich sein könntest?
Nun, diese Fragen konnte zumindest William Burke ganz klar für sich beantworten. Wie steht es mit dir?
Doch alles der Reihe nach.
Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Fortschritts. Ihm entstammen Erfindungen wie etwa die Fotografie oder Telegrafie. Doch nicht nur technische Erfindungen prägten diese Zeit. Die Wissenschaft bildete ihre heute bekannten Fächer in allen Bereichen weiter aus, so auch die Anatomie.
Edinburgh war zu dieser Zeit eine Hochburg für anatomische Forschung. Hier wirkten angesehene Professoren dieses Faches, die wegweisende Erkenntnisse gewannen.
Sicherlich hatte man in der schottischen Hauptstadt genug Geld, um die besten Professoren zu bezahlen, die besten Forschungseinrichtungen und Universitäten zu betreiben. Schliesslich war das British Empire eine Weltmacht, die sich ihrem Zenit näherte.
Es gab da jedoch einen kleinen Haken: Um Anatomie zu betreiben, benötigte man Leichen. Und wenn es nach der Meinung von Dr. Robert Knox ging, brauchte man für jeden Studenten eine. Studenten hatte er pro Vorlesung bis zu 400. Zumindest sollten sie zweimal am Tag dabei zusehen können, wie Dr. Knox eine Leiche sezierte. Wer könnte schon behaupten, dass ein Präparat oder Abbildungen denselben Zweck erfüllen würden?
Im Gedächtnis bleibt schliesslich, was mühelos Erinnerungen schafft. Und nach dem Augenzeugenbericht John James Audubons war dies der Fall: «Die Anblicke waren ausserordentlich widerwärtig, manche schockierender, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich war froh, dieses Leichenhaus verlassen und wieder die gesunde Luft der Strasse atmen zu dürfen.»
Zum Ärger der Mediziner war die Leichen-Supply-Chain durch das Gesetz beschränkt. Zum medizinischen Zweck konnten nur Leichen von Menschen benutzt werden, die Waisen waren, die im Gefängnis starben, hingerichtet wurden, Suizid begingen, die herrenlos aufgelesen wurden oder deren Herkunft einfach unbekannt war.
Die ökonomischen Faktoren von Angebot und Nachfrage griffen: Für Leichen wurde bezahlt. Der Verkauf an sich war zwar sehr verpönt, aber nicht verboten. Grabräuberei keimte auf. Im Gegenzug wurden Leichname bis zur Beerdigung bewacht und Friedhöfe beobachtet. Bis zu 10 britische Pfund Sterling wechselten im Gegenzug für eine Leiche den Besitzer. Heute entspräche diese Summe etwa 942 Pfund. Der angesprochene William Burke verdiente mit seinem ehrbaren Handwerksberuf gerade einmal 1 Pfund pro Woche.
Burke wohnte mit seiner Frau Helen MacDougal im Tanners Close, einer billigen Pension, die zu diesem Zeitpunkt von William Hare und seiner Frau Margaret Laird betrieben wurde. Man kam schon irgendwie über die Runden.
Ende November 1827 war Donald, ein Mieter Hares, mit 4 Pfund Sterling im Rückstand. Er entzog sich der Schuldpflicht, indem er durch ein Ödem starb und Hare mit einem nicht zu geringen finanziellen Schaden zurückliess. Dumm waren Burke und Hare nicht. Sie berieten sich und schnell wurde klar, wie der Schuldner seine Schuld doch noch begleichen konnte. Es war ja bekannt, wie man mit Toten noch Gewinn machen konnte.
Der Mann hatte keine trauernden Angehörigen und so musste sich die Stadt um seine Beerdigung kümmern. Bis es so weit war, sollte die Leiche im Tanners Close verwahrt werden. Burke und Hare handelten schnell. Sie öffneten den Sarg, nahmen die Leiche heraus, füllten den Sarg mit Rinde, bis er genug Gewicht hatte, und verschlossen ihn wieder. Als die Behörden den Sarg abholten, bemerkten sie nichts.
Nach Einbruch der Nacht machten sich die beiden Freunde zur Universität auf. Dort angekommen, wurden sie von einem Studenten an Dr. Robert Knox verwiesen. Da die Leiche äusserliche Makel hatte, bekamen sie nur 7 Pfund und 10 Pence. Dies reichte jedoch, um Hares finanziellen Schaden auszubügeln. Es war eine recht lukrative Idee gewesen. Zudem hatte man niemandem Schaden zugefügt.
Knox wunderte sich nicht darüber, woher die Leiche kam. Schliesslich wurde sie so dringend für seine Forschungen benötigt. Im Gegenteil: Man freute sich und teilte den beiden Lieferanten mit, dass man ihnen gerne noch mehr Ware abnehmen würde.
Der November verging, das alte Jahr wich dem neuen. Noch waren die beiden Herren ehrbare Christenmenschen. Die Bibel gehörte zu Burkes Alltagsinventar und Gottesdienste besuchte er regelmässig. Vielleicht nahm Burke das Gebot «Liebe deinen Nächsten» zu ernst. Es muss Januar oder Februar 1828 gewesen sein, als Burke sich wiederum um die Angelegenheiten seines Freundes Hare kümmern musste.
Ein Mieter des Tanners Close hatte schweres Fieber, sein Zustand verschlechterte sich. Auch er hatte weder Frau noch sonstige enge Bekanntschaften im Haus. Die Konsequenzen der Krankheit waren klar: Der Mann namens Joseph würde andere Leute im Haus anstecken, die Gäste würden ausbleiben, Hare würde wiederum in finanzielle Nöte geraten. Dies durfte man nicht zulassen, also fand man eine pragmatische Lösung für alle Parteien. Burke und Hare erinnerten sich an den Kontakt mit den Medizinern und so wurde der Patient auf einfache Weise behandelt. Zum Wohle Josephs flösste man ihm Whisky ein, bis er betrunken war. Hare hielt ihm kurzerhand Mund und Nase zu, während Burke seinen Oberkörper fixierte, um Einwände gegen die Behandlung abzuwenden.
Der Patient, der sein Fieber, allerdings auch sein Leben, los war, wurde zu Dr. Knox geschafft. Burkes und Hares Methode, ihn zu ermorden, hinterliess für die Rechtsmedizin dieser Zeit keine auffindbaren Hinweise. Dr. Knox lobte die Frische der Ware und entlohnte die Beschaffer abermals gut. Diesmal sogar mit der Höchstsumme von 10 Pfund. So war eine Geschäftsidee geboren.
Insgesamt schlugen Burke und Hare 16 Mal in zehn Monaten zu. Dabei gingen sie immer nach dem gleichen Muster vor. Es galt, bestimmte Regeln zu beachten. Zuerst musste potentielle Ware für Knox identifiziert werden. Es durfte keine Person sein, die vermisst werden würde.
Hatte man das Ziel ausgemacht, wurde es – verführt durch das Charisma der beiden Herrschaften – in das Tanners Close gelockt. Burke und Hare tranken reichlich und vertrugen somit mehr Alkohol als ihre Opfer. Als diese betrunken genug waren, brachte man sie durch «Burking» um. Hierbei sass der Täter auf dem Opfer und hielt ihm Mund, Nase sowie Augen zu. So fixiert und ohne Chance, Atem zu fassen, starben sie einen langsamen, qualvollen Tod durch Sauerstoffmangel.
Anschliessend wurde die makellose Leiche, die keinerlei Gewalteinwirkung preisgab, zu Dr. Knox geschafft. Dieser bedankte sich mit reichlich Geld.
Wer weiss, wie lange Burke und Hare ihr Unternehmen betrieben hätten, hätten sie nur auf diese Regeln gehört. Die beiden Geschäftsmänner wurden fahrlässig. Hare konnte nicht mit Geld umgehen und war trotz des hohen Lohnes oft in finanzieller Not. Und so wurden die beiden Unternehmer immer dreister.
James Wilson, gerade einmal 18 Jahre alt, war obdachlos, behindert und geistig zurückgeblieben. Sein Geld verdiente er durch betteln. «Daft Jamie», wie er von den Edinburghern genannt wurde, war ein bekanntes Gesicht. Bei der Begutachtung kamen Fragen der Studenten auf. War dies nicht ein bekanntes Gesicht? Wurde Daft Jamie nicht vermisst? Dr. Knox – besorgt über die Möglichkeit, seine Nachschubquelle zu verlieren – beteuerte, dies könne nicht Daft Jamie sein. Kurzerhand zerteilte er die Leiche, bevor sie für die Vorlesung benutzt wurde. Der Kopf und die verkrüppelten Füsse wurden weggeschafft.
Dies hätte Burke und Hare eine Warnung sein sollen. Aber was sollte schon passieren? Immerhin war es 15 Mal gut gegangen. Man war ja Profi.
Am 31. Oktober 1828 lernte Margaret Docherty Burke kennen. Docherty stammte ebenfalls wie Burke aus Irland. Sie verstanden sich gut, und so fanden sich die beiden in einer Absteige namens Broggans ein. Hare und die beiden Ehefrauen kamen hinzu. Sie betranken sich stark und der Plan war klar: Niemand würde Docherty vermissen. Sie war mittleren Alters und hatte keine Krankheiten. Sie war also perfekte Ware.
Vermutlich wäre Docherty nur eine unter vielen gewesen, wären da nicht Ann und James Grey gewesen. Das ebenfalls im Broggans eingekehrte Ehepaar stand der unmittelbaren Abfertigung der Ware im Weg. Kurzerhand bezahlte man die Greys dafür, ins Tanners Close umzusiedeln. Diese sagten natürlich nicht Nein; wer würde es schon ausschlagen, für Unterkunft bezahlt zu werden?
Wie es geschehen konnte, dass Burke und Hare im Folgenden so fahrlässig wurden, wird wohl ein Rätsel bleiben. Hätten sie nicht so viel getrunken, hätten sie vielleicht das entscheidende Detail bemerkt. Ann Grey vergass ein Kleidungsstück im Broggans. Am nächsten Tag hinderte Burke sie am Zutritt zum Zimmer, in dem sich das besagte Kleidungsstück befand. Man brachte es ihr. Dies machte die Greys stutzig. Als gerade niemand aufpasste, durchsuchten sie das Zimmer und fanden die Leiche der Margaret Docherty halbherzig unter Stroh verdeckt.
Ein Bestechungsversuch von Hares Frau – es wären immerhin 10 Pfund pro Woche gewesen – blieb erfolglos. Die Greys alarmierten die Polizei. Doch noch hatten Burke und Hare eine Chance, aus dieser misslichen Situation herauszukommen. Sie schafften die Leiche schnell zu Dr. Knox, der sich – unwissend, dass der Mord de facto aufgeflogen war – wie immer mit einem ordentlichen Lohn bedankte.
Während man die Leiche noch wegschaffen konnte, war es nicht mehr möglich, den Tatort zu säubern. Dochertys Kleidung wurde mit Blutflecken bedeckt unter einem Bett gefunden. Nun ging es schnell. Nach sich unterscheidenden Aussagen wurde Burke samt Frau festgenommen. Eine Durchsuchungsaktion der Polizei und eine Identitätsfeststellung Dochertys durch Ann Grey, die das Opfer mit Burke und Hare sowie die Leiche im Broggans gesehen hatte, brachten auch Hare und seine Frau in Untersuchungshaft.
Man stand allerdings vor einem Problem: Zwar gab es hochwertige Indizien und die widersprüchlichen Aussagen der Verdächtigen, jedoch konnten selbst die besten Forensiker an der Leiche Dochertys keinen Mord nachweisen.
Wer für Geld mordet, der muss Egoist sein. Wer durch Egoismus sein Leben schützen kann, wird selten zögern. Dieses Prinzip wandte man nun gegen Burke und Hare an. Hare wurde Immunität im Gegenzug für eine Aussage gegen Burke gewährt. Hare zögerte nicht und belastete Burke schwer.
Nachdem der Richter das Todesurteil für Burke verlesen hatte, warf er einen Blick in die Zukunft: «Ihr Körper sollte öffentlich seziert und zergliedert werden. Und ich vertraue darauf, dass, falls es jemals üblich sein sollte, Skelette zu erhalten, auch die Ihrigen bewahrt werden, damit die Nachwelt an Ihre schrecklichen Verbrechen erinnert wird.»
So geschah es. Burke wurde am 28. Januar 1829 auf dem Lawnmarket in Edinburgh gehängt, seine nackte Leiche wurde öffentlich im Hörsaal der Universität zur Schau gestellt und dann seziert. Dabei gab es einen solchen Massenansturm, dass man eine Meute junger Studenten, denen der Eintritt aufgrund von Platzmangel verwehrt blieb, vor den Türen des Saales beruhigen musste.
Die schreckliche Erinnerung an das, was unter dem Namen «West-Post-Morde» in die Geschichtsbücher eingehen sollte, grüsst noch heute in Form von Burkes Skelett aus einer Vitrine im Museum der Edinburgher Universität.
My compliments, well done, Florian Huber!
Sie wären ein würdiger Stellvertreter für die überaus geschätzte Kolumne «Anekdoteles» während des Mutterschaftsurlaubs von Anna Rothenfluh.
Man kann die Geschichte durchaus auch so lesen