In der Nase von Shina stecken sechs Wattestäbchen. Die Mops-Dame hat alle vier Beine von sich gestreckt, liegt unbeweglich auf dem Operationstisch. Ein Tubus pumpt Sauerstoff und Narkosegas in ihre Lungen, im Hintergrund zeichnet ihr Herzschlag eine Hügellandschaft auf den Bildschirm.
Tierarzt Daniel Koch zieht die Plastikhandschuhe aus, schiebt den Stuhl zurück. «Kurze Pause. Wir müssen warten, bis die Watte den Blutfluss gestoppt hat.» Auf einer Ablagefläche neben ihm liegen die Gründe für diese Operation: Nasenknorpel und ein acht Millimeter langes Stück des Gaumensegels. Es sind die stummen Zeugen eines Exzesses.
Shina leidet an Brachycephalie, an einer extremen Kurzköpfigkeit. Weil die Nase dabei verengt und gestaucht ist, strömt zu wenig Sauerstoff in die Lungen. Der Hund ringt permanent um Luft, wodurch die oberen Atemwege wie bei einem Sog in die Tiefe gezogen werden.
Die Folgen? Enge Nüstern, schmaler Rachen, ein verlängertes Gaumensegel, ausgestülpte Kehlkopftaschen und eine dicke Zunge. Zudem bildet sich in den Lungen ein Unterdruck, der dazu führen kann, dass der Magen in den Brustkasten gesogen wird. Passiert das, würgt oder übergibt sich das Tier.
Shina ist kein Einzelfall. Im Gegenteil. Ihr Schicksal teilen Hunde aller Rassen mit Kurzköpfigkeit: Die Französische Bulldogge, der Mops oder der Boxer gehören zu den berühmtesten Vertretern. Die Natur hat für die Tiere keine Erstickungsanfälle und Atemnot vorgesehen. Es ist der Mensch, der die Tiere krankgezüchtet hat.
Das Phänomen der Überzüchtung macht vor fast keiner Rasse halt. Ein paar Beispiele? Giganten wie Deutschen Doggen schmerzen die Hüften wegen Fehlbildungen, Zwergen wie Chihuahuas wachsen die Schädelknochen oft gar nicht richtig zu, Dackeln springen häufig Bandscheiben raus und in den übermässigen Falten des Shar Pei gären Pilzinfektionen.
Am häufigsten treffen Tierärzte gegenwärtig aber auf rassenbedingte Probleme bei kurzköpfigen Hunden. Insbesondere Möpse und Französische Bulldoggen haben in den vergangenen zehn Jahren einen Boom erfahren, der seinesgleichen sucht. Lebten 2008 knapp 1500 Französische Bulldoggen in der Schweiz, verzeichnet die Hundedatenbank Amicus heute mehr als 10'000 dieser Hunde. Und der Bestand der Möpse hat sich in dieser Zeit verdreifacht.
Woher rührt dieser Anstieg? Marie Müller vom Vorstand der Schweizerischen Vereinigung für Kleintiermedizin (SVK) sagt, dass Prominente den Trend losgetreten hätten. Löste früher ein Film wie «Ein Schweinchen namens Babe» oder «Ein Hund namens Beethoven» einen Ansturm auf Border Collies respektive Bernhardiner aus, lässt sich heute dasselbe beobachten, wenn Stars die sozialen Netzwerke mit Fotos ihrer Vierbeiner fluten.
Ad absurdum führt es Popsängerin Lady Gaga. Ihre Hündin Asia hat einen eigenen Instagram-Account. Mit mehr als 240'000 Followern ist die französische Bulldogge selber eine Berühmtheit.
Die Bilder verdeutlichen, wie stark sich das Verhältnis zwischen Mensch und Hund verändert hat. So muss Asia als Geburtstagskind mit Hut auf dem Kopf posieren, als VIP in einer schwarzen Limousine oder als Gegenüber an einem Restauranttisch. Sie könnte ebenso gut Kind, Freundin oder Partner sein – aber Hund? «Die Menschen sind viel zu weit gegangen. Wie es den Tieren dabei geht, daran denken viele nicht», sagt Tierärztin Müller.
Die Vermenschlichung der Hunde endet indes nicht beim Posieren im Fasnachtskostüm. Auch nicht bei veganer Ernährung oder bei Wellnessprodukten wie Mandarinenrinden-Öl zur Entspannung. Die Vermenschlichung führt zu einem veränderten Aussehen der Tiere. «Besonders gefragt sind Hunde mit einem Kindchen-Schema, also mit grossen Augen und kurzen Nase. Zudem mögen die Menschen hochgezogenen Lefzen, weil es sie glauben lässt, die Tiere würden lächeln», sagt Müller.
Aufgrund der Veranlagung und ihrem Status als hippes Accessoire sind kurzköpfige Rassen besonders stark betroffen. Deshalb lanciert die Vereinigung für Kleintiermedizin nun eine breit abgestützte Kampagne. Gemeinsam mit dem Schweizer Tierschutz, der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft (dem Dachverband der Züchter) und der Universität Bern wurden verschiedene Massnahmen definiert, um die qualvollen Auswüchse des Trends zu stoppen. «Es geht uns nicht um ein Verbot dieser Rassen. Wir wollen aber, dass die Hunde von Geburt an ein Leben ohne Atemnot führen können», sagt Müller. Der Gang zum Chirurgen soll ihnen dadurch erspart bleiben.
Die Kampagne zielt nicht nur auf die Sensibilisierung von potenziellen Haltern. Firmen, die ihre Produkte mit kurzköpfigen Hunden bewerben, werden schriftlich aufgefordert, auf solche Werbeträger zu verzichten. Das heize die Nachfrage zusätzlich an, sagt die Tierärztin. Auch die Forschung soll intensiviert werden. «Die Ausprägungen dieser Qualzuchten sind neu», sagt Müller. Zudem verlangen sie und ihre Mitstreiter strengere Leistungstests für Zuchthunde.
Wie rasch kurzköpfigen Hunden die Puste ausgehen kann, zeigt sich bei Mops-Dame Shina. Vor der Operation lässt sie Tierarzt Daniel Koch kurz vor seiner Praxis rennen. Was nach einem Spiel aussieht, dient der Untersuchung. Koch nimmt den schwer atmenden Hund auf den Arm, horcht und winkt die Besitzer näher zu sich: «Hören Sie, wie das Gaumensegel flattert?»
Shina gehört Familie Meichtry. Zu dritt sind sie an diesem Morgen im Februar aus der Nähe von Biel zu Daniel Koch nach Diessenhofen TG angereist. Mit dabei: das schlechte Gewissen. Vor Shina hatten Meichtrys bereits zwei Hunde; Shina ist allerdings ihr erster Mops. Für die Rasse hätten sie sich entschieden, weil sie sich einen «gemütlichen und menschenbezogenen Hund» wünschten. Einen, der nicht viel Auslauf brauche und die Nähe suche, sagt Pascale Meichtry.
Rasch sei ihnen aufgefallen, wie laut das Tier schnarcht. Verdacht auf Atemprobleme schöpften sie nicht. Meichtrys fühlten sich sicher, da Shina aus einer Schweizer Zucht stammt. Erst ein Dokumentarfilm über kurzköpfige Hunde habe sie aufgerüttelt. Die Familie forschte im Internet nach – und meldete Shina umgehend für eine Untersuchung an.
Wie Hunderte vor ihnen landeten sie bei Daniel Koch. Der Tierarzt ist bekannt für Operationen von kurzköpfigen Hunden. Er führt sie seit mehr als 20 Jahren durch. Dabei erweitert er die Nüstern, kürzt das Gaumensegel und entfernt Engstellen in den Atemwegen. «Die Zahl der Eingriffe ist dramatisch in die Höhe geschossen und die gesundheitlichen Probleme der Hunde wurden schwerwiegender», sagt Koch.
Neben der Atemnot sind die Tiere auch hitzeanfällig – denn ihre Temperaturregelung ist gestört. Weil Hunde nicht schwitzen können, geben sie die Wärme durch Hecheln ab. Mit der kurzen Nase ist das aber nur bedingt möglich. Mops Shina kann im Sommer maximal 100 Meter zurücklegen, sagen die Besitzer. Dieses extreme Leiden soll nach dem chirurgischen Eingriff der Vergangenheit angehören. Der Preis: etwa 1500 Franken.
Koch beschäftigt sich auch wissenschaftlich mit der Kurzköpfigkeit von Hunden. Eine von ihm betreute Dissertation zeigt auf, wie stark sich kurzköpfige Rassen in den vergangenen hundert Jahren verändert haben. Eine Doktorandin hat dafür fast 200 Schädel des Naturhistorischen Museums Bern vermessen. Das Resultat ist signifikant. «Die Nasenschädel haben sich seit etwa 1910 um mehr als 60 Prozent verkürzt. Das ist Qualzucht», sagt Koch.
Doch lassen sich solche Deformationen überhaupt rückgängig machen? Bei kurzköpfigen Hunden wie Möpsen oder den Französischen Bulldoggen bestehe «noch Hoffnung», sagt Tosso Leeb. Der Genetiker der Universität Bern warnt: «Eine fehlgeleitete Zucht muss so rasch wie möglich korrigiert werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die ursprünglichen genetischen Anlagen verloren gehen.»
Würden alle «an einem Strang ziehen», könnte die längere, weniger problematische Kopfform in etwa zehn bis zwanzig Jahren wieder dominieren, schätzt Leeb. Er verweist auf den Deutschen Schäferhund. Vor etwa 20 Jahre galten bei dieser Rasse ganz tiefe Hüften als erstrebenswert. «Nachdem erkannt wurde, wie gravierend die Hüftprobleme dieser Hunde sind, ist man heute von diesem Ideal abgerückt», sagt Leeb.
Haben es somit die hiesigen Züchter in der Hand? Nein, sagt Andreas Rogger, Präsident des Dachverbands der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft (SKG). «Der Einfluss von seriösen Züchtern ist klein.» Als Beispiel verweist er auf die Französische Bulldogge: «Von den mehr als 10 000 registrierten Tiere stammen lediglich 600 aus anerkannten Schweizer Zuchten.» Diese würden regelrecht überrannt.
Ein namhafter Züchter habe deshalb nach mehr als dreissig Jahren seine Zucht eingestellt, sagt Rogger: «Er war es leid, Kunden abzuwimmeln, die Hunde inklusive deren Farbe bestellen und die Tiere bestenfalls tags darauf abholen wollten.» Die Nachfrage wird seit längerem aus unkontrollierten Zuchten aus dem In- und Ausland gestillt. Mit ein paar Klicks lassen sich Welpen im Internet bestellen. Ein riesiges Problem – sind sich Fachleute einig. Die Geschichten, die sie hören, ähneln sich: Eine Übergabe auf einem Parkplatz, eine Handynummer, die bei Nachfragen nicht mehr funktioniert. Nicht selten werden die Tiere zu jung von der Mutter getrennt und den neuen Besitzern in die Hand gedrückt. Papiere über ihre Herkunft fehlen oft.
Der riesige Trend lockt Anbieter auf den Markt, die kaum oder gar keine Erfahrungen mit Hundezucht haben. Ihr Ziel: das schnelle Geld. Sie bieten Welpen zu regelrechten Dumpingpreisen an. Im Internet finden sich «Rassenhunde» für 500 Euro. Zum Vergleich: Aus kontrollierter Schweizer Zucht kostet eine Französische Bulldogge zwischen 2500 und 3500 Franken. Rogger unterscheidet deshalb konsequent zwischen Züchtern und «Vermehrern». Auch in der Schweiz gilt: Eine Bewilligung braucht nur, wer gewerblich züchtet. Das heisst, wer mehr als drei Würfe pro Jahr verkaufen will. Die Mitgliedschaft in einem Zuchtverband ist freiwillig.
Bei extremer Kurzköpfigkeit können sich die Rassenverbände aber nicht gänzlich hinter profithungrigen «Vermehrern» verstecken. An Schönheitswettbewerben und im Ausstellungswesen werden äusserliche Ideale definiert. Bis heute prämieren Richter immer wieder auch gesundheitlich belastete Hunde. Das bestätigt auch Rogger. Er will die Problematik vor allem an internationalen Shows verstanden haben.
Fern von jeglichem Rampenlicht, dafür von der grellen Operationslampe angestrahlt, erwacht Mops Shina allmählich. Die Praxisassistentin krault das Tier – und hält ihm die Schnauze zu. Die Mops-Dame kann erstmals ausschliesslich durch ihre Nase atmen. Doch das muss sie erst noch begreifen.