Erst war die Skepsis gross, doch jetzt ist Sputnik V, der russische Impfstoff gegen das Coronavirus, ein Exportschlager. In der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» wurde dem Vakzin eine hohe Wirksamkeit von fast 92 Prozent bescheinigt, was mit den Konkurrenzprodukten von Biontech/Pfizer oder Moderna vergleichbar ist. Auch wenn noch nicht alle Zweifel vollständig ausgeräumt sind, findet Sputnik V nun reissenden Absatz, besonders in ärmeren Ländern, die sich die teureren Vakzine von Biontech/Pfizer oder Moderna nicht leisten können.
Die anfängliche Skepsis im Westen beruhte vornehmlich darauf, dass Russland seinem Impfstoff die Zulassung erteilte, bevor die Phase-III-Studien begonnen hatten. Möglicherweise schwang aber noch ein anderes, uneingestandenes Motiv mit: Ein gewisses herablassendes Misstrauen gegenüber allen Errungenschaften, die aus Russland kommen.
Die westliche Sicht auf Russland oszilliert zwischen Unter- und Überschätzung, wobei letztere nicht selten dazu dient, die Reihen geschlossen zu halten und kostspielige Abwehrmassnahmen zu rechtfertigen. Die Unterschätzung hingegen scheint kaum einem Zweck zu dienen; sie speist sich aus einer Perspektive, in der Russland als rückständig, unfähig oder einfach marode erscheint.
Russische Wissenschaftler und zum Teil auch Kulturschaffende geniessen mitunter durchaus Respekt im Westen – ganz grosse Namen wie Mendelejew oder Tolstoj kennt man auch hier. Russische Technik hingegen gilt als eher rustikal, klobig, bestenfalls unverwüstlich. Kaum je erreicht ein Objekt aus russischer Fertigung Kultstatus, und wenn doch – wie etwa die legendäre Lomo-Kamera –, dann eher aufgrund eines gewissen Retro-Chics.
Und doch hat russische respektive sowjetische Technik – klobig oder nicht – den Westen mehr als einmal das Fürchten gelehrt. Das wohl bekannteste Beispiel ist Sputnik 1, der 1957 als erster künstlicher Satellit die Erde umkreiste. Der Name des Impfstoffs Sputnik V ist eine bewusste Referenz an diesen Grosserfolg, der für den Westen vollkommen überraschend kam. Sputnik 1 löste den sogenannten Sputnikschock aus – die jähe Erkenntnis in der westlichen Welt, dass der Gegner im Kalten Krieg in der Raumfahrt einen Vorsprung hatte. Mehr noch: Dies bedeutete, dass die Trägerrakete des Satelliten – und zwar mit Atomwaffen bestückt – auch das Territorium der bisher nahezu unverwundbaren USA erreichen konnte. Eine tiefe Verunsicherung war die Folge.
Noch bis etwa 1965 sollte die Sowjetunion, die in den 50er-Jahren bedeutend mehr Ingenieure ausbildete als die USA, die Raumfahrt dominieren. Deutlicher Ausdruck dieser Dominanz war der spektakuläre Erfolg Juri Gagarins, der 1961 als erster Mensch in den Weltraum flog. Auch der erste Weltraumausstieg 1965 und die erste weiche Mondlandung einer unbemannten Sonde 1966 gelang den Sowjets vor den Amerikanern. Sie beherrschten zudem die Landung auf festem Boden, während die Amerikaner ihre Astronauten im Ozean landen liessen.
Eine bis heute andauernde Erfolgsgeschichte ist das Sojus-Programm: Das in den 60er-Jahren entwickelte Sojus-Raumschiff wird bis heute in abgewandelter Form genutzt und gilt als sehr sicher. Mit ihm gelang 1971 die erste Kopplung eines Raumschiffs an eine Raumstation. Die gleichnamige Rakete, die 1966 erstmals abhob, ist die bisher meistgeflogene Rakete der Raumfahrtgeschichte. Obwohl die USA am Ende den Wettlauf im Weltall für sich entscheiden konnten, indem sie zuerst auf dem Mond landeten, ist westliche Herablassung im Bereich der Raumfahrt entschieden fehl am Platze.
Auch wenn Russland heute keine Supermacht mehr ist – Barack Obama bezeichnete es einst als «Regionalmacht» –, verfügt es nach wie vor über ein gewaltiges nukleares Arsenal. Und auch die konventionellen russischen Streitkräfte sind alles andere als unbedeutend. Erzeugnisse der russischen Rüstungsindustrie sind weltweit im Einsatz – das berüchtigtste davon dürfte die bisher meistproduzierte Schusswaffe AK-47 sein, die Kalaschnikow. Das nach seinem Erfinder benannte, äusserst robuste Sturmgewehr hat vermutlich mehr Menschen umgebracht als alle Bomben und Raketen. Doch für unangenehme Überraschungen bei vermeintlich überlegenen Gegnern sorgten andere Waffensysteme. Zwei Beispiele:
Am 8. Juli 1941, gut zwei Wochen nach Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, stiessen Panzereinheiten der Wehrmacht erstmals auf einen bisher unbekannten sowjetischen Panzer – den T-34. Dieses Modell erwies sich als sämtlichen damaligen deutschen Panzern klar überlegen, und auch das Feuer der Panzerabwehrkanonen blieb nahezu wirkungslos. Nur die mangelhafte taktische Ausbildung der sowjetischen Panzerfahrer und der Einsatz der Tanks als reine Infanterie-Unterstützung führte wohl dazu, dass die im Sommer 1941 gut 1000 einsatzfähigen T-34 den rasanten deutschen Vormarsch nicht stoppen konnten.
Wie überlegen der neue Panzertyp den deutschen Modellen war, zeigte sich im Oktober in der Panzerschlacht von Mzensk, die mit schweren deutschen Verlusten endete und die Einnahme der sowjetischen Waffenschmiede Tula verhinderte. Ein deutscher Panzerkommandant beschrieb die Kämpfe so:
Mensk machte den Deutschen endgültig klar, dass ihre siegesgewohnten Panzer diesem Gegner nicht gewachsen waren. Erst ab 1942/43 waren ihre verbesserten und neuen Modelle wie der Tiger dem T-34 überlegen. Gleichwohl war dieser meistgebaute Panzer des Zweiten Weltkriegs durch seine enorme Überzahl einer der kriegsentscheidenden Faktoren.
Im Koreakrieg (1950-1953) setzte die US-Airforce neben den bewährten Mustangs – propellergetriebene Jäger aus dem Zweiten Weltkrieg – auch Düsenjets des Typs Lockheed F-80 «Shooting Star» gegen die nordkoreanischen Jak-9 und Iljuschin Il-10 ein. Diese veralteten Propellermaschinen aus sowjetischer Produktion waren kein Gegner für die US-Jets. Doch dann tauchten plötzlich schnelle Düsenjäger mit gepfeilten Tragflächen am Himmel über Korea auf – es handelte sich um die MiG-15, den besten Jäger im Arsenal der sowjetischen Luftstreitkräfte.
Am 1. November trafen die amerikanischen «Shooting Stars» erstmals auf die sowjetischen Jäger – das erste Gefecht überhaupt zwischen Düsenjägern. Dessen Ausgang war eindeutig: Die amerikanischen Maschinen, die seit 1944 in Serienproduktion hergestellt wurden, waren den neueren, zu Beginn noch belächelten MiG-15 nicht gewachsen. Ausgerechnet die Amerikaner, deren Gefechtsdoktrin auf der unbedingten Erringung der Luftherrschaft beruhte, sahen sich deklassiert.
Die sowjetischen Düsenjäger wurden zu Beginn nicht von nordkoreanischen oder chinesischen Piloten geflogen, sondern von erfahrenen sowjetischen Piloten, die die fliegerische Überlegenheit dieses Typs auszunutzen wussten. Die Amerikaner zogen ihre veralteten Mustangs ab und verlegten Staffeln ihres avanciertesten Jagdflugzeugs nach Korea: Nun flogen die F-86 «Sabre» gegen die MiGs. Und sie waren in der Tat die einzigen Jäger in der westlichen Welt, die es gerade noch mit der sowjetischen Maschine aufnehmen konnten. Im Dezember 1950 gelang es einem Piloten, der diesen Typ flog, zum ersten Mal, eine MiG abzuschiessen.
Mehr als jedes Waffensystem sorgte ein notorisch unterschätzter Faktor für westliche Niederlagen in den Kriegen gegen Russland und später die Sowjetunion: der ungeheure Raum, den dieses Land einnimmt. Russland ist gross, diese Aussage ist trivial. Wenige aber machen sich ein adäquates Bild von der wahren Grösse dieses riesigen Landes: Beim Zusammenbruch der Sowjetunion spalteten sich Staaten wie Kasachstan ab, das allein fünfmal so gross ist wie Frankreich. Oder die Ukraine, nach Russland der grösste Flächenstaat Europas. Und trotz dieser Verluste ist Russland immer noch das mit deutlichem Abstand grösste Land der Erde.
Die enorme Ausdehnung dieses Landes stellt jeden Angreifer vor nahezu unlösbare logistische Probleme. Doch mehrmals haben Invasoren aus dem Westen diese Tatsache sträflich unterschätzt – und damit ihren eigenen Untergang besiegelt.
So erging es Karl XII., dem jungen schwedischen König, der ein brillanter Taktiker, aber weniger guter Stratege war. Im Grossen Nordischen Krieg gelang es ihm im Jahr 1700 bei Narva, eine zahlenmässig überlegene russische Armee fast vollständig aufzureiben. Doch statt die Russen zu verfolgen, um so Zar Peter I. zum Frieden zu zwingen, wandte sich Karl gegen August den Starken von Sachsen-Polen, seinen anderen Gegner. Erst nach einem jahrelangen Feldzug gegen diesen entschied er sich zu einer Grossoffensive – aber nicht im nahen Baltikum, sondern gegen das weit entfernte Moskau.
Seit seinem Sieg bei Narva verachtete der schwedische König die Russen und schätzte ihre Kampfkraft als gering ein. Doch sein Angriff auf Russland geriet zum Desaster: Schon auf halbem Weg nach Moskau litten seine Truppen unter Versorgungsmangel, und er musste nach Süden in die Ukraine ausweichen. Dort, bei Poltawa, schlugen die Russen seine geschwächte Armee vernichtend. Die Niederlage beendete die schwedische Stellung als Grossmacht, die nun vom Russischen Zarenreich eingenommen wurde.
Selbst das militärische Genie Napoleon Bonaparte biss sich an Russland die Zähne aus. Dabei war seine «Grande Armée», mit der er im Juni 1812 im Kaiserreich Russland einfiel, die grösste Streitmacht, die Europa bisher gesehen hatte. Doch auch Napoleon unterschätzte seinen Gegner, und er unterschätzte den Raum, die Weite des russischen Landes. Sehr schnell traten Versorgungsschwierigkeiten auf, obwohl der Grande Armée ein umfangreicher Tross folgte, der sie versorgen sollte.
Die Geschwindigkeit und Kapazität des Nachschubs waren jedoch viel zu gering, der Tross vermochte der vorrückenden Armee nicht zu folgen, und Napoleons Armee konnte in dem dünn besiedelten Russland nicht ausreichend Lebensmittel von der Bevölkerung requirieren. Als die Franzosen Mitte September nach der äusserst blutigen Schlacht bei Borodino Moskau erreichten, war die zu Beginn 300'000 Mann starke Hauptarmee bereits auf etwa 90'000 Mann zusammengeschmolzen.
Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg eigentlich schon verloren, obwohl Napoleons Truppen Moskau – im Gegensatz zur Wehrmacht 129 Jahre später – einnehmen konnten. Doch der Zar dachte zu Napoleons Erstaunen nicht daran, mit ihm zu verhandeln. Nun zeigte sich, dass Napoleons Feldzug im Grunde eine Verlegenheitslösung ohne bestimmtes militärisches Ziel – ausser einem glänzenden Sieg über die Russen – gewesen war. Der ratlose Napoleon musste den Rückzug antreten, der mit Beginn des Winters und besonders beim Übergang über die Beresina im November zu einer militärischen Katastrophe wurde. Der Russlandfeldzug, eines der grössten militärischen Debakel der Weltgeschichte, leitete Napoleons Machtverlust ein und machte Russland endgültig zu einer europäischen Grossmacht.
Auch Adolf Hitler – und die dem «Führer» seit dem schnellen Sieg über Frankreich fast ausnahmslos hörige Generalität – unterschätzte die Grösse des Landes und die sich daraus ergebenden logistischen Probleme. Ignoranz und Arroganz der deutschen Führung trübten zudem den Blick auf das Potenzial der sowjetischen Rüstungsproduktion. Hitler, der sich selber für ein strategisches Genie hielt, verachtete zudem die slawischen Völker aufgrund seiner ideologischen Verblendung als «Untermenschen» und unterschätzte den Widerstandswillen der Russen.
Genährt wurde die deutsche Hybris durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, in dem das Russische Kaiserreich zusammengebrochen war und die Bolschewisten in einen Frieden zu höchst ungünstigen Konditionen eingewilligt hatten. Die Verheerungen, die Stalins Säuberungen im sowjetischen Generalstab anrichteten und die offensichtlichen Schwächen der Roten Armee, die im Winterkrieg gegen Finnland offen zu Tage traten, bestärkten diese Hybris noch mehr. Hitler war überzeugt, dass die Rote Armee und dann das ganze Sowjetsystem unter der Wucht des deutschen Angriffs kollabieren mussten: «Wir müssen nur die Tür auftreten, und das ganze verrottete Gebäude wird krachend zusammenbrechen», erklärte er seinen Generälen.
Doch wider Erwarten konnten die Sowjets trotz gewaltiger Verluste in den ersten Monaten des Krieges ungeahnte Reserven mobilisieren. Der deutsche Angriff dauerte länger als die vorgesehenen sechs bis acht Wochen. Im Winter – auf den man sich daher nicht vorbereitet hatte – blieb er vor den Toren Moskaus stecken und die sowjetischen Gegenoffensive im Dezember 1941 fügte der Wehrmacht ihre erste massive Niederlage zu. Damit war der Blitzkrieg gescheitert und aus dem «Unternehmen Barbarossa» wurde ein Abnützungskrieg, den das «Dritte Reich» nicht gewinnen konnte.
1945 eroberten sowjetische Truppen Berlin und Hitler nahm sich in den Ruinen der Reichshauptstadt das Leben. Deutschland wurde auf Jahre hinaus von den Siegermächten besetzt, während die Sowjetunion als eine von zwei Supermächten aus dem Krieg hervorging. Doch obwohl der sowjetische Anteil am Sieg gegen die Nazis – gegen drei Viertel der Verluste der Wehrmacht ereigneten sich an der Ostfront – überragend ist, wird er heute oft massiv unterschätzt, zumal in den USA. Die Amerikaner schätzten 2019 laut einer Umfrage den eigenen Beitrag zum Sieg auf sage und schreibe 50 Prozent. Auch diese verzerrte – und durch Hollywood-Filme zementierte – Sicht auf den Krieg trägt zur weiteren Unterschätzung Russlands bei.
Nur weil man einmal einen Match gewinnt wird man ja auch nicht gleich Meister.
Russland ist eine klassische europäische Kultur!