Jetzt steht er wieder da. Neben mir, ganz nah an der Bettkante. Keine Ahnung, wie er in mein Zimmer kam. Er starrt mich an. Beobachtet, wie ich da liege und schlafe. Ich spüre, wie seine Blicke mich löchern. Ich kann mich sogar durch seine Augen sehen. Wobei: Vielleicht ist er gar kein Er. Vielleicht ist er eine Sie. Oder gar ein Es? Ich weiss es nicht. Ich nehme ihn nur als Schattenwesen war. Auf jeden Fall geht der Schatten nicht mehr weg. Es wird unheimlich.
Ich versuche aufzuwachen. Ich möchte mich bewegen und sehen, wer sich da in meine Wohnung an mein Bett geschlichen hat.
Aber es geht nicht.
Ich werde nervös. Weder Arme noch Beine kann ich bewegen, den Kopf drehen geht nicht, ich bin wie gelähmt. Nicht einmal die Augen lassen sich öffnen. Ich verkrampfe mich zusehends, kämpfe um die Kontrolle meines Körpers, der sich einfach nicht bewegen lässt.
Ich habe nicht mehr das Gefühl zu schlafen, aber wach bin ich auch nicht. Und er steht einfach nur da und beobachtet mich. Dann endlich wache ich auf. Schweissgebadet schaue ich mich im Zimmer um. Aber da ist niemand. Nur ich. Ich schwöre: Da war gerade eben noch jemand und beobachtete, wie ich schlief.
Ich habe diese «Träume» seit einigen Jahren in unregelmässigen Abständen. Beeinflussen kann ich sie nicht. Aber bei den ersten Erfahrungen war dies ziemlich angsteinflössend. Irgendwann fragte ich Google, wer mir da Besuche abstattet.
Ich lese von Klarträumen, Schlafparalyse und Astralreisen. Klarträume sind Träume, die man bewusst steuern kann. Das trifft nicht ganz zu. Auch an Schlafparalyse (hier von meiner Kollegin Anna Rothenfluh wunderbar beschrieben) leide ich nicht. Aber Astralreisen, ausserkörperliche Erfahrung, das passt und fasziniert mich zugleich – obwohl ich eigentlich nicht sehr empfänglich für «solche Sachen» bin.
Bei Astralreisen kann man sich von aussen betrachten, genauso wie ich es durch die Schattengestalt jeweils schaffe. Ich switche in diesen Momenten (ungewollt) hin und her. Manchmal bin ich die schlafende Person im Bett, die beobachtet wird, dann wieder das Wesen am Bettrand, das mir beim Schlafen zuschaut.
Eigentlich ist es die Seele – oder was immer man auch dafür hält –, welche bei Astralreisen den Körper verlässt. Hervorgerufen werden diese Out-of-Body-Experiences durch verschiedene Gegebenheiten. Müdigkeit, Stress, Migräne oder einfach auch nur unruhiger Schlaf können dazu führen. Aber auch Drogen, Nahtod-Erfahrungen oder Unfälle können der Grund sein. Letztere treffen nicht auf mich zu. Was bei mir passieren muss, dass ich in die Situation komme, weiss ich leider nicht.
Es lassen sich unzählige Berichte finden von Leuten, denen es genau so ergeht wie mir. Manche sprechen von bis zu 15 Prozent der Menschheit, die zumindest einmal eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Anscheinend helfen warme Temperaturen und eine Nord-Süd-Ausrichtung des Körpers. Morgens soll es besser klappen als abends.
Astralreisen können auch willentlich hervorgerufen werden. Auf Youtube finden sich unzählige Anleitungsvideos dazu. Es braucht jedoch viel Erfahrung. Seminare werden ebenfalls angeboten. Wichtig beim absichtlichen Versetzen auf eine Astralreise: Der Körper muss schlafen, das Bewusstsein aber nicht.
Robert Monroe gilt als erster Erforscher des Phänomens. Der Gründer des parapsychologischen Monroe Institutes in der Nähe von Washington, schrieb seine Erfahrungen schon 1977 im Buch «Journeys out of the Body» («Der Mann mit den zwei Leben – Reisen ausserhalb des Körpers») nieder.
Ich kann eine Astralreise nicht willentlich auslösen. Aber ich wehre mich mittlerweile auch nicht mehr gegen das Phänomen, sondern versuche meinen «zweiten Körper» zu steuern. Einige berichten davon, wie sie mühelos schweben und selbst durch dicke Mauern gehen können. Ja, sie können gar Bekannte besuchen und beobachten. Bestätigen kann ich dies nicht. Ich schaffe es bisher knapp aus meinem Zimmer. Aus der Wohnung konnte ich meinen Astralkörper noch nie bewegen.
Und selbst dabei ist es für mich unmöglich zu sagen, ob ich mich jetzt in einer Traumwelt bewege oder in der Realität. Ich versuche mir zwar jeweils zu merken, wie meine Umgebung im Traum aussieht, um dann im Wachzustand zu kontrollieren, ob da beispielsweise tatsächlich das Buch so auf dem Tisch liegt, wie ich es im Traum sah. Bisher habe ich allerdings immer wieder vergessen, wie es da lag ...
Vor dem Schattenmann an meinem Bett habe ich längst keine Angst mehr. Es ist vielmehr umgekehrt: Ich hoffe, er kommt möglichst bald wieder. Denn die Erfahrung ist befreiend und macht fast ein bisschen süchtig.